Wie soll ich leben?
September 1592 im Alter von neunundfünfzig Jahren.
Montaignes Sterben mitanzusehen muss bedrückend gewesen sein: das Ringen nach Luft, die verzweifelte Anstrengung, die qualvolle Schwellung. Dabei nahm er bei vollem Bewusstsein wahr, was um ihn herum geschah – auch das hatte er gehofft, vermeiden zu können. Aber vielleicht empfand er all das als gar nicht so schlimm. Am Tag seines Reitunfalls hatte er Blut erbrochen und wild um sich geschlagen, während sein Geist in wohliger Mattigkeit frei und vom Körper losgelöst war; vielleicht war es auch jetzt so. Vielleicht spürte er, wie das Leben nur noch «am Rande der Lippen» hing, bevor es ihn ganz verließ.
Étienne Pasquier und Pierre de Brach, ein anderer Freund Montaignes, überlieferten der Nachwelt, was sie über seine letzte Stundengehört hatten, und schilderten einen exemplarischen stoischen Tod. Sie erwiesen seinem Gedenken denselben Dienst, den er, Montaigne, La Boétie erwiesen hatte. Montaigne habe glücklich gelebt, schrieb Pierre de Brach in einem Brief an Justus Lipsius, jetzt sei er glücklich und gut gestorben. Die Einzigen, die Schmerz spürten, seien seine Angehörigen, die seiner angenehmen Gesellschaft für immer beraubt waren.
Die erste Aufgabe, die die Überlebenden zu erfüllen hatten, war das Begräbnis – verbunden mit einer ziemlich brutalen Zerstückelung von Montaignes Leichnam. Wie es im «Beuther» heißt:
Sein Herz wurde in der Kirche Saint-Michel beigesetzt, und Françoise de la Chaissagne, Madame de Montaigne, seine Witwe, ließ seinen Leichnam nach Bordeaux bringen und in der Feuillantenkirche beisetzen, wo sie ihm ein Grabmal errichten ließ, und kaufte die Rechte dafür von der Kirche.
Es war nicht ungewöhnlich, einzelne Körperteile getrennt beizusetzen, trotzdem mutet es merkwürdig an, dass man nur das Herz in der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Kapelle von Montaignes Landsitz bestattete. Neben seinem Vater und den kleinen Skeletten seiner eigenen, früh verstorbenen Kinder hätte er eine friedlichere Ruhestätte gefunden.
Doch seine sterblichen Überreste ohne das Herz wurden in die Kirche des Feuillantenordens gebracht, eine weitere merkwürdige Entscheidung und offenkundig nicht die erste Wahl. Zuerst hatte man ihn in der Kathedrale Saint-André in Bordeaux bestatten wollen, wofür am 15. Dezember 1592 die Erlaubnis erteilt wurde. Damit hätte er an der Seite der Angehörigen von Françoises Familie, nicht seiner eigenen, gelegen. Doch dann überlegte Françoise es sich anders, vielleicht weil sie oder Montaigne den Feuillanten nahestand. Montaigne hatte in den Essais seine Wertschätzung für diesen Orden bekundet. Die Entscheidung wird den Mönchen gefallen haben. Montaignes Grabstätte und die regelmäßigen Messen für sein Seelenheil brachte ihnen beträchtliche Summen ein, mit denen sie den Innenraum renovierten. Montaigne erhielt ein Grabmal, das bis heute existiert. Es zeigt ihn in der Rüstung eines Ritters, die Hände zum Gebet gefaltet. Zwei Grabinschriften,eine in griechischer, die andere in lateinischer Sprache, feiern seinen christlichen Pyrrhonismus, seine Treue zum Gesetz und zur Religion seiner Vorfahren, seine «sanften Sitten», die überlegene Urteilskraft, seine Aufrichtigkeit und Tapferkeit. Der lateinische Text endet mit den anrührenden Worten:
Françoise de La Chassaigne, ewiger Trauer zur Beute, ließ dieses Grabmal errichten zur Erinnerung an ihren Gatten, den sie zu Recht betrauert. Er hatte keine andere Gattin; sie wird nie einen anderen Gatten haben.
Schließlich wurde sein Leichnam ohne das Herz am 1. Mai 1594, eineinhalb Jahre nach seinem Tod, in diesem Grab zur Ruhe gebettet. Doch es blieb nicht seine letzte Ruhestätte. Zehn Jahre später begannen Erweiterungsarbeiten an der Kirche, und ihr Grundriss wurde verändert. Damit hätte Montaignes Grab weit entfernt vom neuen Standort des Altars gelegen: ein Bruch mit der Vereinbarung, die Françoise mit den Mönchen getroffen hatte. Sie zog gegen die Feuillanten vor Gericht und gewann. 1614 mussten sie das Grab an eine prominentere Stelle in der neuen Kirche umsetzen.
Es vergingen friedliche Jahre und Jahrzehnte bis zur Französischen Revolution neun Generationen später. Der nun säkulare Staat hob neben den anderen religiösen Kongregationen auch den Feuillantenorden auf und beschlagnahmte dessen Besitz einschließlich der Kirche samt Inventar. Montaigne wurde damals als Held der Aufklärung und als freidenkerischer Philosoph
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