Wie soll ich leben?
Montaigne sich gleichsam auf einem weit verzweigten Kanalsystem des menschlichen Geistes durch die Zeit bewegte. An jeder Schleuse wurden seinen Texten Stichproben entnommen: von
– Montaignes ersten begeisterten Lesern, die seine stoische Weisheit und seine Fähigkeit schätzten, markante Sätze klassischer Autoren zu zitieren;
– Descartes und Pascal, die seinen Skeptizismus und sein Verwischen der Grenze zwischen Mensch und Tier abstoßend und faszinierend zugleich fanden;
– den Libertins des 17. Jahrhunderts, die ihn als kühnen Freigeist
liebten;
– den aufklärerischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, die seinen Skeptizismus und sein Interesse an der Neuen Welt schätzten;
– den Romantikern, die einen «natürlichen» Montaigne in den Vordergrund stellten, den sie sich allerdings weniger unterkühlt gewünscht hätten;
– Lesern, deren Leben durch Krieg und politische Wirren aus der Bahn geworfen wurde und die sich Montaigne zu ihrem Helden und Gefährten erkoren haben;
– den Moralisten des späten 19. Jahrhunderts, denen seine Derbheit die Schamröte ins Gesicht trieb; sie beklagten seinen Mangel an moralisch-ethischer Stärke, erfanden ihn aber neu nach ihrem eigenen Bild: als einen respektablen Gentleman, ganz wie sie selbst;
– englischen Essayisten und Gelegenheitsphilosophen im Verlauf von vier Jahrhunderten;
– Friedrich Nietzsche, gewiss kein Gelegenheitsphilosoph, der Montaignes Leichtigkeit des Geistes bewunderte und seine stoische und epikureische Lebenskunst einer neuen Epoche anverwandelte;
– Schriftstellern der Moderne wie Virginia Woolf, die das Gefühl, zu existieren und Bewusstsein zu haben, literarisch darzustellen versuchten;
– Herausgebern von textkritischen Editionen und Remixes, die Montaigne zu ganz unterschiedlichen Gestalten umformten;
– Interpreten des späten 20. Jahrhunderts, die aus ein paar beiläufigen Worten Montaignes erstaunliche Gedankengebäude errichteten.
Unterwegs sind wir auch jenen Lesern begegnet, die fanden, Montaigne schreibe zu ausführlich über seine Probleme beim Wasserlassen, sein Schreibstil sei verbesserungsbedürftig, er sei viel zu bequem oder auch, er sei ein Weiser oder ihr zweites Ich, so dass sie am Ende nicht wussten, ob sie die Essais lasen oder selbst schrieben.
Viele dieser sehr unterschiedlichen Lesarten stehen im Zeichen der großen hellenistischen Denktraditionen, die Montaigne übermittelt und dabei umgestaltet hatte. Sie waren das Fundament seines eigenen Denkens und von großem Einfluss auf die abendländische Kultur. Selbst in ihren frühesten Anfängen können ihre verschiedenen Strömungen nicht sauber voneinander getrennt werden; in Montaignes Version wurden sie unentwirrbarer als je zuvor. Zusammengehalten werden sie vor allem durch das Grundprinzip des Strebens nach eudaimonia oder gelingender Lebensführung und durch die Überzeugung, der beste Weg zu diesem Ziel seien Gleichmut und ein inneres Gleichgewicht, ataraxia . Das verbindet sie mit Montaigne und durch ihn mit allen seinen Lesern, die in den Essais nach einem Wegbegleiter oder nach praktischer, alltagstauglicher Weisheit suchen.
Die Frage, mit der sich moderne Leser Montaignes Essais nähern, ist dieselbe, die er selbst an Seneca, Sextus und Lukrez gerichtet hatte – und diese wiederum an ihre Vorläufer. Das meinte Virginia Woolfletztlich auch mit der geistigen Verknüpfung: keine wissenschaftliche Tradition, sondern untereinander verbundene Individuen, die sich für sich selbst interessieren und über ihr Leben nachdenken. Sie alle teilen die Erfahrung, einer Menschheit anzugehören: das Gefühl, ein denkendes und fühlendes Wesen zu sein, das ein ganz gewöhnliches Leben führt – obwohl Montaigne diese geistige Einheit bereitwillig auch auf andere Spezies ausgedehnt hätte.
Der Grund, warum in dem allergewöhnlichsten Leben bereits alles liegt, was wir wissen müssen, ist für Montaigne einfach:
Ich führe ein Leben ohne Glanz und Gloria vor Augen – warum auch nicht? Man kann alle Moralphilosophie ebenso gut auf ein niedriges und namenloses wie auf ein reicher ausgestattetes Leben gründen.
Sei unvollkommen!
Montaigne geriet in seinen letzten Lebensjahren immer wieder an die Grenze zum Tod, dem er schon als junger Mann nach seinem Reitunfall nahegekommen war. Er war erst Ende fünfzig, wusste aber, dass jede Nierenkolik tödlich sein konnte, und manchmal waren seine Schmerzen so stark, dass er den Tod regelrecht herbeisehnte. Doch
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