Wie soll ich leben?
sein Steinleiden zwang ihn nicht «mit tyrannischer Gewalt nieder», es verleidete ihm vielmehr das Leben «geschickt und sanft» und ließ ihm viel Zeit dazwischen. Der Tod hatte ein freundliches Gesicht, genau wie die Stoiker es gesagt hatten.
So habe ich von meinen Koliken zumindest den Gewinn, dass ihnen gelingen dürfte, wozu ich mich noch nicht zu überwinden vermochte: mich mit dem Tod tatsächlich vertraut zu machen und völlig auszusöhnen.
Was er einst nach seinem Sturz in die Bewusstlosigkeit bereits erkannt hatte, fand er jetzt bestätigt: Die Natur bewerkstelligt alles, man muss sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Sie reicht uns die Hand, so Montaigne, und führt uns «einen sanften Hang hinunter […], ganzallmählich, Stufe um Stufe, fast unmerklich». Die Natur machte ihn krank und gab ihm damit, was er immer erstrebt hatte: ataraxia und eudaimonia . Seine besten Momente des Wohlbefindens waren jene unmittelbar nach einer Kolik, wenn der Stein abgegangen war: ein Gefühl körperlicher Erleichterung, aber auch eine befreiende geistige Leichtigkeit.
Gibt es etwas Wohligeres als den nach den jähesten und schärfsten Koliken eintretenden Umschwung, wenn man durch den Abgang eines Steins aus äußerstem Schmerz blitzartig wieder ins strahlende Licht einer völlig beschwerdefreien Gesundheit versetzt wird?
Ein solches Wohlbefinden überkam ihn manchmal sogar mitten in einer Nierenkolik. So schmerzhaft sie auch war, er lernte es, das Gefühl der Befriedigung auszukosten, wenn er Bewunderung im Blick der anderen entdeckte.
Natürlich […] tut es einem gut, wenn man von sich sagen hört: «Schaut doch, welche Seelenstärke! Schaut doch, wie viel er aushält!» Man sieht ja, wie dir vor Qual der Schweiß ausbricht und wie du erbleichst, wie du hernach rot anläufst und erzitterst, wie du alles bis aufs Blut ausspeist und dich in unheimlichen Zuckungen und Krämpfen windest, wie dir zuweilen große Tränen aus den Augen quellen und du einen dicken, schwarzen, widerwärtigen Urin ausscheidest (wenn er nicht von einem gezackten und scharfkantigen Stein aufgehalten wird, der dir das Innre deiner Rute grausam wundscheuert und zersticht); und man sieht, wie du zugleich gelassen wie immer die Anwesenden unterhältst, hin und wieder mit deinen Leuten herumscherzt, bei einer ernsthaften Erörterung deinen Mann stehst, dich für jeden Schmerzenslaut ausdrücklich entschuldigst und deine Pein bagatellisierst.
Jetzt erkannte Montaigne, dass es sehr viel einfacher war, während einer solchen Attacke zu scherzen und das Gespräch aufrechtzuerhalten – einfacher jedenfalls, als ein Außenstehender es jemals erahnen würde. Wie er bereits in seiner Nahtoderfahrung angedeutet hatte, verrät das äußere Erscheinungsbild nicht, was sich in dem Moment im Inneren eines Menschen abspielt. Es war tatsächlich ein Todeskampf,im Unterschied zu seinem Reitunfall, als er, Montaigne, an seinem Wams gezerrt hatte. Und doch empfand er dieselbe Losgelöstheit. Dieses Gefühl schien ihn zu erleichtern.
Ich beginne, mich mit meinem von der Kolik geplagten Leben gütlich zu einigen, gibt es mir doch auch manchen Anlass zu Hoffnung und Trost.
Eine ähnliche Erfahrung machte er mit dem Alter ganz allgemein. Das Alter war nicht automatisch gleichbedeutend mit Weisheit, im Gegenteil:
Neben all der so dummen wie tattrigen Wichtigtuerei und anödenden Geschwätzigkeit, neben all den stachlig abweisenden Launen und abergläubischen Grillen, neben all dem lächerlichen Festhalten an den unsrer Nutzung längst entzognen Reichtümern finde ich das Alter auch durch wesentlich mehr Neid, Ungerechtigkeit und Hinterlist gekennzeichnet.
Doch das war der entscheidende Punkt, denn der Wert des Alters lag darin, dass man sich an solche Schwächen gewöhnte. Das Alter bot die Chance, die eigene Fehlbarkeit in einer Weise anzuerkennen, wie es der Jugend in der Regel schwerfällt. Der körperliche und geistige Verfall erleichtert es einem, seine menschlichen Grenzen und Beschränktheiten zu akzeptieren. Wenn man begreift, dass das Alter nicht weise macht, gelangt man schließlich auch zu einer Art Weisheit.
Leben lernen heißt also letztlich lernen, mit den eigenen Unvollkommenheiten zu leben und sie sogar zu bejahen.
Unser ganzes Sein wird vom Kitt krankhafter Eigenschaften zusammengehalten. […] Wer im Menschen die Saat dieser Eigenschaften ausjäten wollte, würde vernichten, was unser Leben grundlegend mitbestimmt.
Selbst die Philosophie
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