Wie soll ich leben?
leben?
Antwort: Werde geboren!
Micheau
Montaignes ursprüngliches Ich, also jener Mensch, der keine Essais schrieb, sondern lebte und atmete wie alle anderen auch, hatte bessere Startbedingungen als die meisten. Er wurde am 28. Februar 1533 geboren, im selben Jahr wie die spätere Königin Elisabeth I. von England. Zwischen elf Uhr und zwölf Uhr am Mittag erblickte er im Familienschloss, das lebenslang sein Zuhause blieb, das Licht der Welt. Man gab ihm den Namen Michel, aber zumindest für seinen Vater blieb er zeitlebens Micheau. Der Name taucht sogar im väterlichen Testament auf, als der Junge längst zum Mann geworden war.
In seinen Essais schrieb Montaigne, die Schwangerschaft seiner Mutter habe elf Monate gedauert – eine sonderbare Behauptung, da man damals schon wusste, dass ein solches Naturwunder unmöglich war. Böswillige Zungen hätten sicher unschöne Schlussfolgerungen gezogen. In Rabelais’ Gargantua und Pantagruel verbringt der Riese Gargantua gleichfalls elf Monate im Mutterleib. Rabelais fragt, ob das nicht abstrus klinge, und beantwortet die Frage mit der ironischen Schilderung von Fällen, in denen gewiefte Rechtsanwälte die Legitimität eines Kindes zu beweisen suchten, dessen angeblicher Vater bereits elf Monate vor der Geburt gestorben war: «Auf dieses Gesetz hin können die Witfrauen noch zwei Monate lang nach dem Abscheiden ihres Eheliebsten frank und frei das Liebesspiel betreiben.» Montaigne hatte Rabelais gelesen und muss gewusst haben, wie man darüber witzeln würde, aber das schien ihn nicht zu kümmern.
An keiner Stelle der Essais äußert Montaigne Zweifel an Pierre Eyquems Vaterschaft. Er denkt nach über die Macht der Vererbung unddie Eigenschaften, die über seinen Urgroßvater, Großvater und Vater an ihn weitergegeben worden waren, darunter Aufrichtigkeit und die Neigung zu Nierensteinen. Er scheint sich also zweifelsfrei als den Sohn seines Vaters betrachtet zu haben.
Montaigne sprach gern über Aufrichtigkeit und Erbkrankheiten. Über andere Aspekte seiner Herkunft schwieg er sich lieber aus, denn er entstammte keinem alten Adelsgeschlecht, sondern mütterlicher- wie väterlicherseits einer Kaufmannsfamilie. Seine Behauptung, «die meisten» seiner Vorfahren seien auf dem Anwesen geboren worden, war eine glatte Lüge. Sein Vater war der Erste, der dort zur Welt kam.
Das Landgut selbst war allerdings schon länger in Familienbesitz. Montaignes Urgroßvater Ramon Eyquem kaufte es im Jahr 1477, am Ende eines langen Lebens, in dem er lukrativ mit Wein, Heringen und Färberwaid gehandelt hatte, einer wichtigen einheimischen Pflanze zur Gewinnung des blauen Farbstoffs. Ramons Sohn Grimon bereicherte das Anwesen selbst zwar lediglich um einen von Eichen und Zedern gesäumten Weg zur nahe gelegenen Kapelle, vermehrte aber den Reichtum der Eyquems und begründete mit seinem Engagement in der Politik von Bordeaux eine neue Familientradition. Irgendwann gab er den Handel auf und begann ein «adliges» Leben zu führen: ein bedeutsamer Schritt. Adel stand damals nicht für einen verfeinerten Lebensstil, er bezeichnete vielmehr etwas ganz Pragmatisches: Um in den Adelsstand erhoben zu werden, durfte eine Familie seit mindestens drei Generationen keinen Handel mehr getrieben und damit auch keine Steuern gezahlt haben. Grimons Sohn Pierre verzichtete gleichfalls auf die Kaufmannstätigkeit, und somit fiel erstmals Michel Eyquem de Montaigne als dem Vertreter der dritten Generation der Status des Adligen zu. Zu der Zeit allerdings hatte sein Vater Pierre ironischerweise das Landgut bereits zu einem erfolgreichen Wirtschaftsbetrieb ausgebaut. Das château wurde zum Zentrum eines relativ großen Weinbaubetriebs, der jährlich Zehntausende Liter Wein produzierte – und bis heute produziert. Das war zulässig: Mit den Erzeugnissen aus den eigenen Ländereien konnte man so viel Geld verdienen, wie man wollte, es wurde nicht als Handel betrachtet.
Die Geschichte der Familie Eyquem belegt somit eine Mobilität zumindest am oberen Ende der sozialen Stufenleiter. Neuer Adelkonnte sich bisweilen nur schwer die volle Anerkennung verschaffen, doch das galt vor allem für die sogenannte noblesse de robe , den Amtsadel, der seinen Stand aufgrund seiner Verdienste in der staatlichen Finanz- und Rechtsverwaltung erlangt hatte, nicht für die noblesse d'épée , den Schwertadel, der auf Besitz gründete, wie im Fall von Montaignes Familie, und stolz war auf die damit verbundenen militärischen
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