Wie soll ich leben?
kreativen Sammlungen zusammen. Später beschäftigte sich der Schüler Montaigne mit interessanteren Themen: unter anderem mit Philosophie, allerdings nicht mit der praktischen Philosophie der Lebenskunst, sondern mit aristotelischer Logik und Metaphysik. Es gab aber auch Vergnügliches. Ein neuer Lehrer, Marc-Antoine Muret,schrieb und inszenierte Theaterstücke. In einem spielte Montaigne eine Hauptrolle. Er hatte schauspielerisches Talent, beherrschte die «Mimik» und zeigte «eine große Geschmeidigkeit von Stimme und Gebärden», wie er schrieb.
All dies vollzog sich in einer für das Collège schwierigen Zeit. 1547 wurde der fortschrittliche Rektor André Gouvéa von konservativen politischen Gruppen aus dem Amt gedrängt. Er ging nach Portugal und nahm seine besten Lehrer mit. Im Jahr darauf brach in Bordeaux der Aufstand aus, der Montaignes Vater, zu der Zeit Bürgermeister, so viel Kummer bereitete. Der Südwesten Frankreichs war seit jeher von der Salzsteuer befreit gewesen, doch jetzt erhob der neue König, Heinrich II., diese Steuer auch hier. Daraufhin kam es zum Aufstand.
Fünf Tage lang, vom 17. bis zum 22. August 1548, zog ein wütender Mob durch die Straßen und steckte die Häuser der Steuereinnehmer in Brand. Häuser der Reichen wurden geplündert, und die Unruhen weiteten sich immer weiter aus. Einige Steuerbeamte wurden getötet, ihre Leichen durch die Straßen geschleift und demonstrativ mit Salzhaufen bedeckt. Tristan de Moneins, der Generalleutnant und Gouverneur der Stadt und damit offizieller Repräsentant des Königs, wurde gelyncht. Er hatte sich in einer mächtigen königlichen Festung, dem Château Trompette, verschanzt, vor deren Toren eine Volksmenge sein Herauskommen forderte. Vielleicht wollte er sich dadurch Respekt verschaffen, dass er der Aufforderung nachkam. Aber das war ein Fehler. Er wurde von der Menge erschlagen.
Montaigne, damals fünfzehn Jahre alt, trieb sich auf den Straßen herum, denn im Collège fand aufgrund der Gewalttätigkeiten kein Unterricht statt. Er wurde Zeuge, wie Moneins getötet wurde – eine Szene, die er nie mehr vergessen sollte. Vielleicht zum ersten Mal tauchte in seinem Kopf eine Frage auf, die in unterschiedlichen Abwandlungen seine Essais durchziehen sollte: ob es besser war, sich den Respekt des Feindes durch offenen Widerstand zu verschaffen, oder ob man sich seiner Gnade überantworten und hoffen sollte, ihn durch Unterwerfung oder den Appell an seine Güte zu gewinnen.
Montaignes Ansicht nach bestand Moneins’ Fehler in seiner Unschlüssigkeit. Zunächst wollte er der Menge trotzen, verlor aber dann den Mut zu seinem Entschluss und zeigte sich unterwürfig. Seine Botschaftwar nicht eindeutig. Außerdem unterschätzte er die Psychologie der Massen. Ein aufgepeitschter Mob kann entweder beschwichtigt oder niedergeschlagen werden, normale menschliche Gefühle darf man nicht von ihm erwarten. Dies schien Moneins nicht gewusst zu haben. Er erwartete vom Mob dieselben menschlichen Regungen wie von einem Individuum.
Es war gewiss tapfer, sich unbewaffnet in diese «tobende See von Wahnsinnigen zu stürzen», aber er habe bis zum Schluss durchhalten müssen und
seine Rolle nicht aufgeben dürfen; so aber bekam er angesichts der ihm auf den Leib rückenden Gefahr kalte Füße und verschlimmerte seine Lage noch, indem er aus seiner bis dahin demütigen und willfährigen Haltung nun in völlige Fassungslosigkeit verfiel, vor Entsetzen und Zerknirschung die Augen aufgerissen und die Stimme schrill. Als er dann noch versuchte, das Hasenpanier zu ergreifen, entflammte er die Meute erst recht und hetzte sie sich endgültig auf den Hals.
Moneins’ Ermordung und gewiss auch andere grausame Szenen, deren Zeuge er in jener Woche wurde, lehrten Montaigne viel über die psychologische Komplexität von Auseinandersetzungen und über die Schwierigkeit, sich in einer kritischen Situation richtig zu verhalten. Dass die Gewalttätigkeiten schließlich abebbten, war hauptsächlich das Verdienst von Montaignes späterem Schwiegervater Geoffrey de La Chassaigne, der einen Waffenstillstand aushandelte. Doch für ihre Unbotmäßigkeit wurde die Stadt hart bestraft. Im Oktober schickte der König zehntausend Soldaten unter dem Kommando des Connétable de Montmorency nach Bordeaux. In den folgenden drei Monaten führte Montmorency eine Schreckensherrschaft und ermunterte seine Soldaten zu Plünderungen und Mord wie eine Besatzungsmacht. Wer als Teilnehmer an den
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