Wie soll ich leben?
stetig veränderte, sagte ihm grundsätzlichzu. Wenn sie unvollkommen war, stand er nicht unter dem Druck, sie fehlerlos zu handhaben.
Obwohl Montaigne idealistische Konzepte ablehnte, befürwortete er doch das pädagogische Experiment seines Vaters. Wenn er sich über die Erziehung äußerte, waren seine Ideen eine moderate Variante der väterlichen Vorstellungen, die viel zu extrem waren, um allgemeine Zustimmung zu finden. Der Schriftsteller Tabourot des Accords, ein Zeitgenosse Montaignes, regte sogar an, Adlige sollten sich zusammenschließen, um ihre Kinder in einer Art lateinischer Kommune zu erziehen – ein Plan, der wohl nie realisiert wurde.
Weniger bizarre Aspekte einer kindgerechten Erziehung im 16. Jahrhundert setzten sich jedoch durch und wurden bis in unsere Zeit praktiziert. Im 18. Jahrhundert begründete Jean-Jacques Rousseau den Kult der natürlichen Kindererziehung. Einige seiner Ideen bezog er von Montaigne, besonders aus seinem untypisch normativen Essai über die Erziehung.
Der Essai «Über die Knabenerziehung» setzte zwangsläufig Normen, denn er war von einer Nachbarin, der schwangeren Diane de Foix, Comtesse de Gurson, in Auftrag gegeben worden. Sie wollte wissen, welcher Start ins Leben Montaignes Ansicht nach für ihr noch ungeborenes Kind (falls es ein Sohn wäre) am besten sei. Montaignes Ratschläge offenbaren, wie zufrieden er auf die Erziehung zurückblickte, die ihm selbst zuteil geworden war. Er empfahl der Comtesse, ihre mütterlichen Instinkte zu zügeln und einen Außenstehenden zum Mentor ihres Sohnes zu bestellen, denn Eltern ließen sich zu sehr von ihren Gefühlen leiten. Sie machten sich unablässig Sorgen, dass das Kind sich im Regen erkälte oder sich beim Fechten verletze. Ein Lehrer sei da weniger zimperlich. Gleichzeitig dürfe man dem Lehrer auch keine Grausamkeiten erlauben. Lernen solle für das Kind ein Vergnügen sein, und es solle mit der Vorstellung aufwachsen, dass Wissen ein freundliches, kein grimmiges und erschreckendes Gesicht hat.
Er wetterte gegen die brutalen Methoden der meisten Schulen. «Hinweg mit dem Zwang, mit der Gewalttätigkeit!», forderte er. Wenn man zur Unterrichtszeit in eine Schule komme, höre man «nichts als das Geschrei geprügelter Zöglinge und wutschäumender Lehrer». All das nehme den Kindern für den Rest ihres Lebens die Lust aufs Lernen.
Oft brauche man gar kein Buch zu Hilfe zu nehmen. Tanzen lerne man durch Tanzen, Laute zu spielen, indem man Laute spiele. Dasselbe gelte für das Denken, ja für das Leben überhaupt. Jede Erfahrung sei eine Chance, etwas zu lernen: «die losen Reden eines Pagen, die Begriffsstutzigkeit eines Stallknechts oder auch muntere Tischgespräche». Das Kind solle lernen, alles in Frage zu stellen, «alles durchs eigene Sieb zu schlagen, und nichts setze er [der Lehrer] ihm lediglich kraft seiner Autorität und seines Ansehns in den Kopf». Auch Reisen sei nützlich, ebenso der Umgang mit Menschen, die dem Kind Offenheit und Anpassungsfähigkeit beibringen. Eigenbröteleien müssten frühzeitig bekämpft werden. «Ich habe Leute erlebt, die vor dem Geruch von Äpfeln entsetzter flohen als vor Arkebusenschüssen; andere, die vor einer Maus erschraken; andere, die sich erbrachen, wenn sie Rahm sahen, und wieder andre, wenn vor ihnen ein Federbett aufgeschüttelt wurde.» All dies sei widernatürlich und stehe dem menschlichen Zusammenleben entgegen. Es könne überwunden werden, denn Kinder seien formbar.
Wenigstens bis zu einem bestimmten Punkt. An einer anderen Stelle äußert sich Montaigne ganz anders: Veranlagungen seien nicht zu verändern, man könne sie zwar in gewisse Bahnen lenken oder trainieren, davon befreien könne man sich nicht. «Da ist keiner, der, falls er sich ausforscht, nicht in sich eine ihm eigne Form entdeckte, eine Grundform, die sich gegen die Erziehung […] zu behaupten sucht.»
Pierre hatte wohl eine weniger fatalistische Sicht auf die menschliche Natur, war er doch überzeugt, dass er den jungen Micheau tatsächlich formen könne und dass sein pädagogisches Experiment gelingen werde. Mit seiner zupackenden Mentalität machte er sich stets daran, etwas aufzubauen und auszugestalten – sein Anwesen und eben auch seinen Sohn.
Doch wie so viele andere Vorhaben ließ Pierre auch die experimentelle Erziehung seines Sohnes unvollendet, das jedenfalls glaubte Montaigne. Im Alter von sechs Jahren wurde das Kind aus diesem unkonventionellen pädagogischen Umfeld abrupt
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