Wie soll ich leben?
Grundsätze wider. Man war der Ansicht, «es verwirre das zarte Gehirn der Kinder, wenn man sie am Morgen jählings wachrüttle», weshalb Pierre seinen Sohn wie eine Kobra aus dem Bett locken ließ – vom Wohlklang eines Spinetts oder eines anderen Musikinstruments. Körperliche Züchtigung erfuhr das Kind kaum, es wurde nur zweimal mit einer Rute geschlagen, und auch dann nur sehr sanft. Es war eine Erziehung mit «Umsicht und Fingerspitzengefühl».
Pierre bezog seine pädagogischen Ideen von seinen gelehrten Freunden und vielleicht auch von Leuten, die er in Italien kennengelernt hatte. Doch der wichtigste Ideologe für diesen Ansatz war ein Holländer, Erasmus von Rotterdam, der während seines Italienaufenthalts zwanzig Jahre zuvor über die Erziehung geschrieben hatte. Montaigne behauptete, das pädagogische Konzept sei die Idee seinesVaters gewesen, der «alle menschenmöglichen Erkundigungen über eine besonders empfehlenswerte Erziehungsmethode einholte». Wie für Pierre typisch, war es ein wissenschaftlich fundiertes Konzept und gleichzeitig ziemlich unausgegoren. Es ist mit Sicherheit deutlicher von Montaignes Vater Pierre als von seiner Mutter Antoinette inspiriert, und man würde allzu gern wissen, was sie davon hielt. Wenn Montaignes Säuglingsjahre bei einer Bauernfamilie ihren Sohn von ihr entfremdet hatten, so verstärkte die weitere Erziehung diese Distanz noch zusätzlich. Sie wohnten jetzt zwar im selben Haus, aber sprachlich und kulturell lebten sie auf verschiedenen Planeten. Es ist unwahrscheinlich, dass sich seine Mutter die lateinische Sprache gut aneignete, auch wenn Montaigne sagt, sie habe ihm zuliebe ein wenig gelernt. Auch Pierres Kenntnisse blieben rudimentär. Wenn das Experiment tatsächlich so streng war, wie es seine Beschreibung nahelegt (was durchaus zu bezweifeln ist), dann konnten Vater und Mutter mit ihrem Sohn nur sehr gestelzt und unnatürlich kommunizieren. Selbst Horstanus konnte sich nicht völlig spontan mit ihm unterhalten, so profund seine Kenntnisse auch waren. So viel zur «Natürlichkeit» dieser Erziehung.Man kann nur vermuten – und hoffen –, dass die strengen Regeln gelegentlich durchbrochen wurden. Darüber lässt Montaigne nichts verlauten. Und er lässt auch keinen Zweifel daran, dass das Experiment in seinen Augen ein großer Erfolg war.
Der junge Montaigne wird geweckt. Kupferstich aus dem 19. Jahrhundert
Er sprach zwar fließend Latein, aber diese Saat ging später nicht auf. Mangels Sprachpraxis sank sein Niveau wieder auf das aller anderen gebildeten jungen Adligen. Als jedoch sein Vater Jahrzehnte später während einer Nierenkolik bewusstlos wurde und in seine Arme sank, kamen Montaignes «erste Worte aus dem tiefsten Innern» – auf Latein.
Nachhaltiger war die Wirkung dieser Erziehung auf Montaignes Persönlichkeit. Wie so oft bei frühkindlichen Erfahrungen lagen Nutzen und Schaden nah beieinander. Er war anders als seine Familie und alle seine Zeitgenossen, was vielleicht zu einer gewissen Distanziertheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen führte, ihm aber gleichzeitig geistige Unabhängigkeit verschaffte. Es wurden hohe Erwartungen in ihm geweckt, da er in Gesellschaft der größten Schriftsteller der Antike und nicht der provinziell geprägten Franzosen seiner Nachbarschaft aufgewachsen war. Gleichzeitig enthob es ihn anderer, konventionellerer Ambitionen, da er alles in Frage stellte, was andere zu erreichen suchten. Der junge Montaigne war einzigartig. Er musste sich nicht mit anderen messen, und er musste sich kaum anstrengen. Seine Erziehung verlief in den bizarrsten Grenzen, die jemals einem Kind gesetzt wurden, gleichzeitig genoss er eine geradezu unbegrenzte Freiheit. Er lebte in seiner ganz eigenen Welt.
Am Ende eignete er sich ein gutes Französisch an, wenngleich nie diese disziplinierte, makellose Version, die spätere Jahrhunderte ihren Schriftstellern abverlangten. Er hatte eine eigenwillige Ausdrucksweise. Manche fanden, er schreibe wie ein ungehobelter Bauerntölpel. Dennoch war Französisch, nicht Lateinisch die Sprache seiner Wahl. In den Essais nennt er dafür einen merkwürdigen Grund: Französisch sei unbeständiger als die klassischen Sprachen, weshalb seine Schriften unweigerlich der Vergänglichkeit anheimfallen würden – und er daher schreiben könne, wie und was er wolle, ohne sich um seinen guten Ruf den Kopf zu zerbrechen. Die Tatsache, dass eine Sprache nicht in Perfektion erstarrt war, sondern sich
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