Wie soll ich leben?
herausgerissen und in eine ganz normale Schule gesteckt. Montaigne blieb lebenslang überzeugt, dies habe er sich selbst zuzuschreiben: Seine Widerspenstigkeit, seine «Grundform», habe den Vater veranlasst, das Experimentabzubrechen. Vielleicht aber hatte Pierre sich nur der Konvention gebeugt, nachdem er seine gelehrten Ratgeber nicht mehr an seiner Seite hatte. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Pierre von Anfang an die Absicht hatte, Micheau ab einem bestimmten Alter zur Schule zu schicken. Montaigne verstand den Plan nicht und sah darin eine Kritik an seiner Person, die wohl gar nicht vorhanden war. Das mehrstufige Erziehungskonzept von der Bauernfamilie über den Lateinlehrer bis hin zur Schule hatte das Ziel, den Sohn zu einem vollendeten Edelmann heranzubilden, der geistig unabhängig, aber auch anpassungsfähig war. Seit 1539 also besuchte Montaigne zusammen mit anderen Knaben seines Alters das Collège de Guyenne in Bordeaux.
Er blieb dort zehn Jahre lang, bis mindestens 1548, und er gewöhnte sich daran, doch zunächst war es ein schwerer Schock. Nach dem freien Leben auf dem Land fiel es ihm nicht leicht, sich an das Stadtleben zu gewöhnen. Bordeaux lag knapp sechzig Kilometer von seinem Elternhaus entfernt, mehrere Stunden Ritt, selbst auf einem schnellen Pferd. Die Reise wurde dadurch verlangsamt, dass man den Fluss Dordogne überqueren musste. Die Passagiere wurden mit einer Fähre von einer Landschaft mit sanft gewellten grünen Hügeln und Weinbergen mitten in den Handelsdistrikt von Bordeaux übergesetzt, in eine völlig andere Welt.
Von einer Stadtmauer umgeben und mit Häusern, die sich in klaustrophobischer Enge am Fluss zusammendrängten, unterschied sich das Bordeaux des 16. Jahrhunderts grundlegend von der heutigen Stadt. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden die alten engen Straßen durch breite Boulevards und große beigefarbene Gebäude ersetzt, die der Stadt bis heute ihren besonderen Charakter verleihen. Zur Zeit Montaignes war es eine mit rund 25.000 Einwohnern dichtbesiedelte und geschäftige Stadt. Der Fluss wimmelte von Booten, und an seinen Ufern herrschte ein reger Warenverkehr. Hauptsächlich Wein wurde ver- und entladen, aber auch – in einem Gemisch der Gerüche und Aromen – getrocknete Fische, Salz und Holz.
Das Collège de Guyenne lag in einem ruhigeren Teil der Stadt, abseits des Handelszentrums, inmitten von Ulmen. Es war eine ausgezeichnete Schule, auch wenn Montaigne kein gutes Haar an ihr ließ. Ihr Lehrplan und ihre Lehrmethoden waren für unser heutigesEmpfinden furchteinflößend. Alles drehte sich um das Auswendiglernen der lateinischen Sprache, jenes Fachs, in dem Montaigne seinen Mitschülern so überlegen war, dass sogar seine Lehrer staunten. Von Lehrern und Schülern wurde erwartet, dass sie sich in dieser Sprache unterhalten konnten. Wie bei Montaigne zu Hause wurde in der Schule sehr gekünstelt gesprochen – doch damit endeten auch schon die Gemeinsamkeiten. Hier wurde man nicht mit sanfter Musik geweckt. Hier stand nicht das Vergnügen an erster Stelle, und, am schockierendsten: Der kleine Micheau wurde nicht als der Mittelpunkt des Universums betrachtet.
Jetzt musste er sich einfügen. Der Unterricht begann frühmorgens mit der sezierenden Lektüre literarischer Texte, in der Regel von Autoren wie Cicero, die dem Geschmack junger Leser am wenigsten entsprachen. Nachmittags wurde Grammatik gepaukt, theoretisch und nicht anhand von Beispielen, und abends wurden Texte gelesen. Die Lehrer diktierten ihre Analysen, die die Jungen auswendig zu lernen hatten.
Aufgrund seiner Lateinkenntnisse wurde Montaigne schnell in eine höhere Klasse versetzt, doch der schlechte Einfluss seiner weniger privilegierten Mitschüler ließ, wie er schreibt, sein Latein schnell «verlottern», so dass er am Ende der Schulzeit weniger konnte als am Anfang.
In Wirklichkeit war das Collège relativ experimentierfreudig und offen, und einige Aspekte des Schulalltags gefielen Montaigne mehr, als er zugeben wollte. Die Schüler der höheren Klassen wetteiferten in der Redekunst und im Debattieren, selbstverständlich ausschließlich auf Latein und mit weniger Konzentration auf den Inhalt als auf den sprachlichen Ausdruck. Hier lernte Montaigne kritisches Denken und rhetorische Fähigkeiten, die ihm ein Leben lang von Nutzen waren. Hier begegnete er wohl erstmals auch den «Kollektaneenbüchern», Notizheften, in die man Lektürezitate eintrug; diese Zitate stellte man zu neuen,
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