Wie soll ich leben?
Gedächtnis haben. Wenn Montaigne nichts behalten konnte, musste er die Wahrheit sagen. Ein schlechtes Gedächtnis zwang auch dazu, sich in seinen Reden und Anekdoten kurz zu fassen, und ermöglichte ein sicheres Urteil. Menschen mit einem guten Gedächtnis haben den Kopf voll, Montaignes Kopf jedoch war so wunderbar leer, dass dem gesunden Menschenverstand nichts in die Quere kommen konnte. Und schließlich vergaß ein vergesslicher Mensch auch rasch die Kränkungen, die andere ihm zufügten, und hegte weniger Groll. Kurzum, er präsentierte sich als jemand, der auf einer Wolke des glückseligen Vergessens durch die Welt schwebte.
Ein Bereich, in dem Montaignes Gedächtnis gut zu funktionieren schien, wenn er es nur wollte, war die Wiedergabe persönlicher Erlebnisse wie des Reitunfalls. Er verlor sich nicht in netten, oberflächlichen Anekdoten, sondern konnte seine inneren Gefühle wiedergeben – nicht bis in die kleinste Einzelheit, weil ihn Heraklits Fluss forttrug, dennoch aber sehr präzise. Der Psychologe Dugald Stewart meinte im 19. Jahrhundert, Montaignes schlechtes Gedächtnis habe ihn für diese Art der Beobachtung geradezu prädestiniert. Montaigne war empfänglich für jenes «unfreiwillige» Sicherinnern, das später auch Proust in Bann schlug: für den unvermittelten Einbruch der Vergangenheit in dieGegenwart, ausgelöst durch einen längst vergessenen Geschmack oder Geruch. Solche Momente scheinen nur dann möglich, wenn man tief in das Meer des Vergessens eintaucht, wenn man in der richtigen Stimmung ist und über Ruhe und Muße verfügt.
Montaigne erzwang nichts. «Nur ganz behutsam darf ich es in Anspruch nehmen», schrieb er über sein Gedächtnis. «Es dient mir zu seiner, nicht zu meiner Stunde.» Was man unbedingt festhalten will, entzieht sich nur noch mehr. Umgekehrt prägt sich einem nichts tiefer ein als das, was man unbedingt vergessen möchte.
«Was mir sonst leicht und natürlich von der Hand geht, will mir nicht gelingen, wenn ich es mir ausdrücklich vorschreibe und gebiete.» Seinem Gedächtnis eigene Wege zu erlauben war Teil seiner Strategie, sich in seinem Handeln von der Natur leiten zu lassen. In seiner Kindheit war das Ergebnis oft, dass er faul und nichtsnutzig erschien, was er in vieler Hinsicht wohl auch war. Trotz der ständigen Bemühungen seines Vaters, ihn zu motivieren, schrieb er, sei er «so schwerfällig, schlaff und verschlafen gewesen, dass man mich meiner Saumseligkeit nicht einmal zum Spielen entreißen konnte».
Seiner eigenen Einschätzung nach war er nicht nur müßiggängerisch, sondern auch schwer von Begriff. «Schon ein winziges Wölkchen», schrieb er, trübe ihm derart den Blick, dass er «zum Beispiel nie auch nur das leichteste Rätsel zu lösen vermochte […]. Daher verstehe ich von allen Spielen, die sein [des Geistes] Mitspiel erfordern – Dame und Schach etwa oder Karten und dergleichen –, nur die gröbsten Züge.» Er war «schwer von Begriff» und «statt findig – lahm; vor allem aber litt ich an einer unglaublichen Gedächtnisschwäche». Er tut so, als hätten alle seine Talente und Begabungen in friedlichem Schlummer gelegen.
Aber es gab auch Vorteile. «Was ich einmal begriffen habe, behalte ich» und «Was ich freilich sah, das sah ich gut», behauptete er. Darüber hinaus benutzte er seine träge Gemütsart gern als Deckmäntelchen, unter dem er «kühne Gedanken» und unabhängige Ansichten verstecken konnte. Seine angebliche Unzulänglichkeit ermöglichte es ihm, etwas viel Wichtigeres für sich in Anspruch zu nehmen als eine schnelle Auffassungsgabe: ein gesundes Urteilsvermögen.
Montaigne wäre ein gutes Beispiel für die Bewegung «Slow Movement»,die sich seit ihren Anfängen Ende des 20. Jahrhunderts langsam und bedächtig zu einem regelrechten Kult entwickelt hat. Wie Montaigne erklären auch die Anhänger dieser Bewegung die Langsamkeit zum Lebensprinzip. Ihr Manifest ist Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit , der die Lebensgeschichte des Polarforschers John Franklin erzählt. Franklin wird als Kind gehänselt, doch im hohen Norden entdeckt er die seinem Naturell angemessene Umgebung: einen Ort der Gemächlichkeit, wo man innehalten und nachdenken kann, ohne überstürzt handeln zu müssen. Der 1983 erschienene Roman wurde zum Weltbestseller und sogar als alternatives Managementhandbuch empfohlen. Unterdessen entwickelte sich die Slow-Food-Bewegung, die in Italien als Protest gegen die Eröffnung eines
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