Wie soll ich leben?
umgebunden, die Kapuze auf einer Schulter, einen Strumpf nicht straffgezogen».
Das anschaulichste Bild des jungen Montaigne vermittelt ein Gedicht, das sein Freund Étienne de La Boétie ihm widmete. Es beschreibt die bedenklicheren und die attraktiven Seiten Montaignes. La Boétie, nur wenige Jahre älter, betrachtete seinen Freund als einen klugen und vielversprechenden Kopf, sah aber die Gefahr, dass er seine Talente vergeudete. Er bedürfe der Führung durch einen ruhigeren, weiseren Mentor – eine Rolle, die La Boétie sich selbst zuschrieb –, weigere sich aber hartnäckig, diese Führung anzunehmen, wenn sie ihm angeboten wurde. Er sei allzu empfänglich für hübsche junge Frauen und ein wenig zu selbstgefällig. «Mein Haus stellt große Reichtümer zur Verfügung, mein Alter große Kräfte», lässt La Boétie Montaigne in dem Gedicht selbstzufrieden sagen. «Und tatsächlich lächelt mich ein hübsches Mädchen an.» La Boétie vergleicht ihn mit Alkibiades, dessen Schönheit und Charme unwiderstehlich waren, oder mit Herkules, der heroischer Taten fähig ist, aber an den moralischen Scheidewegen zu lange zögert. Sein Charme war zugleich sein größtes Manko.
Als dieses Gedicht entstand, hatte Montaigne seine Schulzeit längst hinter sich und ein Amt als Gerichtsrat im Parlament von Bordeaux übernommen. Nach dem Ende seiner Schulzeit am Collège verschwand er für ein paar Jahre aus dem Fokus der Biographen, bevor er als junger Parlamentsrat erneut in Erscheinung trat.
Um dieses Amt antreten zu können, muss er Rechtswissenschaften studiert haben – wohl nicht in Bordeaux, sondern in Paris oder Toulouse, wahrscheinlich in beiden Städten. Bemerkungen in den Essais zeigen, dass er Toulouse gut kannte und auch über Paris einiges zu sagen wusste. Er habe die Stadt von Jugend an ins Herz geschlossen, schrieb er; das kann jedes Alter bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr bedeuten. «Ich liebe sie zärtlich», bekennt er, «bis in ihre Warzen und Muttermale.» Paris war die einzige Stadt, in der es ihm nichts ausmachte, sich als Franzose zu fühlen statt als stolzer Gascogner. Eine Stadt, groß in jeder Hinsicht: «groß durch die Zahl ihrer Einwohner, groß durch ihre glückliche Lage, unvergleichlich groß aber durch die Fülle und Vielfalt ihrer Annehmlichkeiten».
Wo auch immer er sein Studium absolvierte, es bereitete ihn auf eine juristische und politische Karriere vor, die vielleicht von Anfang an für ihn ins Auge gefasst worden war und die er dreizehn Jahre lang verfolgte. In den Biographien wird diese Lebensphase in der Regel nur kurz abgehandelt, da sie lückenhaft dokumentiert ist, doch die Jahre zwischen seinem vierundzwanzigsten und seinem siebenunddreißigsten Geburtstag waren entscheidend. Als er sich schließlich aufs Land zurückzog, Wein anbaute und in seinem Turm schrieb, verfügte er über einen reichen Schatz an Erfahrungen im Staatsdienst, das ist in seinen ersten Essais deutlich zu spüren. Als er die späteren Kapitel verfasste, lagen noch viel größere politische Verantwortlichkeiten hinter ihm.
Seine erste Stelle trat Montaigne jedoch nicht in Bordeaux, sondern in der nahe gelegenen Stadt Périgueux nordöstlich seines Familienstammsitzes an. Das dortige Steuergericht war erst im Jahr 1554 gegründet worden, hauptsächlich zur Aufbesserung der staatlichen Finanzen, denn öffentliche Ämter waren käuflich. Das Gericht wurde aber bereits 1557 wieder aufgelöst, weil das mächtigere Parlament von Bordeaux gegen dieses Steuergericht und vor allem gegen die höheren Gehälter der dortigen Beamten opponierte.
Montaigne ging Ende 1556 nach Périgueux. Das Gericht bestand gerade so lange, um ihm den beruflichen Einstieg zu ermöglichen. Ja, es ebnete ihm sogar den Weg in die Politik von Bordeaux, weil nach seiner Auflösung sämtliche Beamte aus Périgueux dorthin versetzt wurden, auch Montaigne. Sie wurden in Bordeaux nicht gerade begeistertempfangen, aber die dortigen Gerichtsräte hatten keine Wahl. Dafür machten sie ihren Kollegen aus Périgueux das Leben schwer, indem sie ihnen beengte Räumlichkeiten zuwiesen und ihnen keine Gerichtsdiener zur Verfügung stellten. Der Groll ist verständlich, denn ihre Kollegen aus Périgueux bezogen weiterhin höhere Gehälter, die allerdings im August 1561 angeglichen wurden, womit wiederum die aus Périgueux stammenden Beamten unzufrieden waren. Mit achtundzwanzig Jahren war Montaigne zwar immer noch recht jung, dennoch
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