Wie soll ich leben?
ernannten ihn seine Kollegen zum Vertreter ihrer Beschwerde. Seine aktenkundige Rede dokumentiert seine Präsenz in Bordeaux. Zweifellos setzte er seine rhetorischen Tricks und Kniffe ein – Spontaneität und unverbrauchten Charme –, allerdings ohne Erfolg. Das Parlament entschied gegen die Kläger, und die Gehälter wurden nach unten angepasst.
Trotz der unharmonischen Atmosphäre muss die Tätigkeit im Parlament von Bordeaux interessanter gewesen sein als in Périgueux. Es war eines der acht wichtigsten Stadtparlamente Frankreichs, und obwohl Bordeaux seine Privilegien nur teilweise zurückerhalten hatte, zählte sein Parlament zu den mächtigsten des Landes. Ihm oblag weitgehend die lokale Rechtsprechung und die Zivilverwaltung, es konnte königliche Edikte ablehnen oder formal Beschwerde einlegen, wenn der König ein unliebsames Gesetz erließ, was in diesen unruhigen Zeiten oft geschah.
Anfangs hatte Montaigne mehr mit Aufgaben der Rechtsprechung als mit Politik zu tun. Er war hauptsächlich für die Chambre des Enquêtes, die Berufungskammer, tätig und führte den Vorsitz bei Zivilprozessen, die zu kompliziert waren, um von den Richtern der Grande Chambre behandelt zu werden. Er führte die Untersuchungen, fasste sie zusammen und übergab seine schriftliche Beurteilung des Falls den Richtern. Er selbst fällte keine Urteile, sondern lieferte lediglich eine Dokumentation des Rechtsstreits und legte die Standpunkte der verschiedenen Parteien dar. Vielleicht entwickelte er hier seine Überzeugung von der Vielfalt der Perspektiven in jeder Situation, ein Gedanke, der sich wie ein roter Faden durch die Essais zieht.
Unter diesem Aspekt betrachtet, erscheint die Rechtsprechung des 16. Jahrhunderts als eine sehr anspruchsvolle Angelegenheit, doch inWirklichkeit wurde sie durch formalistische Spitzfindigkeiten behindert. Sämtliche juristischen Argumente mussten durch Autoritäten belegt und in vorgefertigte Kategorien eingepasst werden. Die konkreten Umstände des Einzelfalls spielten gegenüber den Gesetzbüchern, Statuten, Rechtstraditionen, juristischen Abhandlungen und vor allem den in zahllosen Bänden niedergelegten Kommentaren und Glossen oft eine sekundäre Rolle. Selbst in den einfachsten Fällen mussten scheinbar endlos lang Dokumente studiert werden, eine Aufgabe, die in der Regel jüngeren Juristen wie Montaigne übertragen wurde.
Am meisten hasste Montaigne die juristischen Kommentare und die Sekundärliteratur allgemein.
Es macht einem mehr zu schaffen, die Interpretationen zu interpretieren, als die Sachen, und es gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen Gegenstand sonst. Wir tun nichts anderes, als uns gegenseitig zu glossieren.
Rabelais hatte sich über den Wust von Dokumenten lustig gemacht, die sich um jeden Fall auftürmten. Sein Richter Reitgans in Gargantua und Pantagruel studierte stundenlang Akten und wog bedächtig ab, bevor er schließlich durch Würfeln eine Entscheidung traf – eine Methode, die auch nicht schlechter war als andere. Viele Autoren kritisierten zudem die unter Juristen weit verbreitete Bestechlichkeit. Die Justiz galt generell als so ungerecht, dass Montaigne klagte, das einfache Volk ginge ihr aus dem Weg, statt sein Recht zu suchen. Er erzählte die Geschichte einiger Bauern, die einen Mann blutüberströmt in einem Waldstück fanden. Der Mann flehte sie an, ihm Wasser zu geben und ihm beizustehen, aber die Bauern liefen davon aus Angst, für den Überfall verantwortlich gemacht zu werden. Montaigne hatte die Aufgabe, mit ihnen zu sprechen. «Was sollte ich ihnen sagen?», schrieb er. Sie hatten zu Recht Angst. In einem anderen von Montaigne erwähnten Fall gestanden Mörder einen Mord, für den bereits andere verurteilt worden waren und kurz vor der Hinrichtung standen. Die Hinrichtung jedoch wurde nicht aufgeschoben. Das Gericht entschied, die Männer hinzurichten, um für die Annullierung von Urteilen keinen Präzedenzfall zu schaffen.
Montaigne war nicht der Einzige, der im 16. Jahrhundert eine Rechtsreform forderte. Viel von seiner Kritik ist ein Widerhall dessen, was sein Zeitgenosse, der aufgeklärte Kanzler Frankreichs, Michel de L’Hôpital, in einer Kampagne anprangerte, die zu spürbaren Verbesserungen führte. Andere Argumente Montaignes waren origineller und weitsichtiger. Das größte Problem der Rechtsprechung sei, dass sie eine Grundtatsache außer Acht lasse: die Fehlbarkeit des Menschen. Es werde ein endgültiges Urteil erwartet,
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