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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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der einen Hand?» Zuerst ist man verblüfft, doch dann eröffnen diese Fragen einen Weg zu allumfassender Weisheit. Diese Verwandtschaft zwischen Pyrrhonismusund Zen ist womöglich kein Zufall: Pyrrhon reiste mit Alexander dem Großen nach Persien und Indien und beschäftigte sich auch mit fernöstlicher Philosophie; nicht mit dem Zen-Buddhismus, den es damals noch gar nicht gab, aber mit seinen Vorläufern.
    Der Trick des epoché reizt zum Lachen, und man fühlt sich erleichtert und von dem Zwang befreit, auf alles eine Antwort finden zu müssen. Um ein Beispiel von Alan Bailey zu zitieren, einem Historiker des Skeptizismus: Wenn jemand behauptet, die Sandkörnchen in der Sahara ergäben eine gerade Zahl, und dich nach deiner Meinung dazu fragt, antwortest du womöglich spontan: «Woher soll ich das wissen?» Die philosophischere Antwort lautet: «Ich enthalte mich des Urteils», epoché . Wenn ein Dritter sagt: «Was für ein Unsinn! Die Sandkörnchen in der Sahara ergeben selbstverständlich eine ungerade Zahl», kannst du auch ihm ruhig und gelassen entgegnen: epoché . Sextus gibt die folgende Definition von epoché:
    Ich vermag nicht zu sagen, welche von den vorliegenden Gegenständen man glauben und welchem man nicht glauben soll.
    Oder:
    Mir ergeht es jetzt so, dass ich nichts von dem, was unter diese Frage fällt, dogmatisch setze oder aufhebe.
    Oder:
    Jedem von mir untersuchten Argument, das dogmatisch etwas beweist, scheint mir ein anderes Argument entgegenzustehen, das ebenfalls dogmatisch etwas beweist und das dem ersten in Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit gleichwertig ist.
    Besonders diese letzte Formulierung kann man demjenigen entgegenhalten, der abstruse Behauptungen über den Saharasand oder sonst etwas vorbringt. Sich eines Urteils zu enthalten vermittelt ein Gefühl geistiger Gelassenheit. Man kann die Frage nicht beantworten, aber eine Antwort erscheint auch gar nicht notwendig.
    Für einen Pyrrhoneer gilt dies auch bei schwierigeren Fragen. Ist es erlaubt, jemanden anzulügen, damit es ihm besser geht? Epoché . Istmeine Katze hübscher als deine? Epoché . Macht Liebe den Menschen glücklich? Gibt es einen gerechten Krieg? Epoché . Und so weiter. Ein echter Pyrrhoneer wird sich auch in Fragen eines Urteils enthalten, bei denen der normale Mensch die naheliegende Antwort zu kennen glaubt. Legen Hühner Eier? Existieren tatsächlich andere Menschen? Fällt mein Blick jetzt, in diesem Moment, auf eine Tasse Kaffee? Alles ist epoché .
    Den Pyrrhoneern lag es fern, sich zu beunruhigen und in einen paranoiden Strudel des Zweifels zu stürzen. Es ging ihnen ganz im Gegenteil um Gelassenheit in allen Dingen, um Ataraxie – ein Ziel, das sie mit den Stoikern und Epikureern teilten – und damit um Glück und Wohlbefinden. Der offenkundigste Vorteil ist, dass Pyrrhoneer sich nie den Kopf zerbrechen müssen, ob sie etwas falsch machen. Wenn sie sich mit ihrer Argumentation durchsetzen, ist es nur der Beweis dafür, dass sie richtig liegen; wenn nicht, zeigt es, dass sie zu Recht an ihrem eigenen Wissen gezweifelt haben. Sie vertreten gern unpopuläre, umstrittene Ansichten, einfach so aus Spaß. Montaigne beschrieb das so:
    Falls ihr nachweist, dass der Schnee weiß ist, werden sie umgekehrt behaupten, er sei schwarz. Sagt ihr, er sei weder das eine noch das andre, entgegnen sie flugs, er sei beides. Äußert ihr nach sicherer Erkenntnis die Überzeugung, ihr verstündet nichts von der Sache, werden sie darauf beharren, ihr tätet es doch. Selbst wenn ihr kategorisch behauptet, ihr wärt diesbezüglich im Zweifel, werden sie das bestreiten und erklären, dass ihr keineswegs im Zweifel seid oder dass ihr euern Zweifel gar nicht beurteilen, geschweige nachweisen könnt.
    Wahrscheinlich werden sie spätestens jetzt durch einen Schlag auf die Nase zum Schweigen gebracht, aber selbst das lässt sie kalt, es tangiert sie nicht, dass jemand auf sie wütend ist, und auch körperlicher Schmerz stört sie nicht sonderlich. Denn wer sagt, dass Schmerz schlechter sei als die Freiheit von Schmerz? Und wenn ein Knochensplitter in ihr Gehirn eindringt und sie sterben, na und? Ist es besser zu leben als zu sterben?
    «Sei gegrüßt, skeptisches Behagen!», schrieb der irische Dichter Thomas Moore lange nach Montaigne:

    Wenn des Irrtums Wellen verebbt sind,
    wie süß ist es, endlich den ruhigen Hafen zu erreichen
    und, sanft gewiegt vom wogenden Zweifel,
    über die kräftigen Winde zu lächeln, die draußen

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