Wie soll ich leben?
Unergründlichkeit –, das ihn an seinen Sohn erinnerte.
Dass Pierre das Buch zunächst beiseitelegte und erst später wieder hervorholte, mag auch damit zu tun haben, dass es 1558 von der Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt und 1564 dort wieder gestrichen wurde. Die Theologia naturalis vertrat eine «rationale» Theologie, zu der die Kirche keine schlüssige Position bezog. Im Kern enthielt das Werk die Ansicht, religiöse Wahrheiten könnten durch vernünftige Argumente, durch Beweisgründe aus der Natur belegt werden. Damit vertrat Sebond eine zu Montaigne und zeitweilig auch zur Kirche konträre Position. Montaigne tendierte mehr zum Fideismus mit seinem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber dem Erkenntnisanspruch der menschlichen Vernunft: Der Mensch könne religiöse Wahrheiten allein durch den Glauben erkennen, so diese Position. Montaigne hegte keine starke Sehnsucht nach dem Glauben, den Erkenntnisanspruch der menschlichen Vernunft lehnte er trotzdem vehement ab – und das lief letztlich auf dasselbe hinaus.
Montaigne sah sich also vor die Aufgabe gestellt, eine 500 Seiten lange theologische Schrift zu übersetzen, deren These er nicht billigte. «Das war eine recht ungewohnte und neue Aufgabe für mich», schrieb er. In den Essais spielte er die Herausforderung herunter: «Da ich damals zufällig nichts andres zu tun hatte und dem besten Vater, den es je gab, keine Bitte ausschlagen konnte, machte ich mich an die Arbeit und brachte sie so gut ich konnte zu Ende.» Es muss jedoch ein gewaltigesProjekt gewesen sein, an dem er mehr als ein Jahr lang arbeitete. Wahrscheinlich überraschte es ihn selbst, wie sehr er davon profitierte. Das Projekt stimulierte ihn, wie ein Sandkorn eine Auster zur Produktion einer Perle anregt. Während er am Schreibtisch saß, muss er ständig gedacht haben: «Aber … aber …» und sogar: «Nein! Nein!» Er war gezwungen, seinen eigenen Vorstellungen auf den Grund zu gehen. Selbst wenn er sich damals nicht inhaltlich mit dem Text auseinandersetzte, ein paar Jahre später tat er es dann doch, als er (wahrscheinlich von Margarete von Valois, der Schwester des Königs und Gemahlin des Protestanten Heinrich von Navarra) beauftragt wurde, eine Verteidigung dieses Werks zu schreiben – also etwas zu verteidigen, das er für unvertretbar hielt.
Diese Schrift wurde unter dem Titel «Apologie für Raymond Sebond» als zwölftes Kapitel in das zweite Buch der Essais aufgenommen. Es ist das mit Abstand längste Kapitel des gesamten Werks. In der Ausgabe von 1580 sind die anderen dreiundneunzig Kapitel durchschnittlich neuneinhalb Seiten lang, während die «Apologie» 248 Seiten umfasst. Stilistisch jedoch fügt sie sich perfekt ein. Sie umgarnt den Leser, webt komplizierte Muster der Digression, genau wie die anderen Kapitel, und gibt den Essais in mehr als einer Hinsicht Gewicht. Ohne die «Apologie» wären die Essais in den nachfolgenden Jahrhunderten von sehr viel geringerem Einfluss gewesen. Sie wären weniger gehasst, aber auch weniger gelesen worden.
«Apologie» heißt «Verteidigung». Und tatsächlich beginnt das Kapitel als eine Verteidigung Raymond Sebonds – und zwar etwa eine halbe Seite lang. Dann schwenkt Montaigne zu etwas um, das eher einem Angriff ähnelt. Wie der Kritiker Louis Cons meinte, unterstützt Montaigne Sebond etwa so wie die Schlinge den Gehenkten.
Aber wieso nennt Montaigne den Text dann eine «Apologie»? Sein Trick ist einfach. Er gibt vor, Sebond gegen all jene in Schutz zu nehmen, die versucht haben, ihn mit rationalen Argumenten zu widerlegen. Das tut er, indem er zeigt, dass Vernunftargumente generell untauglich sind, weil auf die blinde menschliche Vernunft kein Verlass ist. Damit verteidigt er einen Rationalisten gegen andere Rationalisten mit dem Argument, dass alles, was sich auf die Vernunft stützt, wertlos sei. Mit seiner Verteidigung Sebonds widerlegt er zwar dessen Gegner,aber er widerlegt gleichzeitig auch Sebond selbst, und zwar in noch sehr viel entschiedenerer Weise. Dessen war er sich selbstverständlich bewusst.
Trotz seiner Länge und Komplexität ist dieser Essai durchaus kurzweilig, und zwar aufgrund einer Technik, die Montaigne von Plutarch übernommen hat: Er untermauert seine Argumentation durch Fallbeispiele. In jedem Absatz entfalten sich Geschichten und Fakten wie Blüten in einem Füllhorn. Nahezu jede Geschichte führt bildhaft vor Augen, wie untauglich die Vernunft ist, wie schwach die Kräfte des
Weitere Kostenlose Bücher