Wie soll ich leben?
dahinschwindet.» Die Essais halfen ihm dabei. Er spielte selbst Versuchskaninchen und stellte sich mit dem Notizblock in der Hand gleichsam neben sich. Er freute sich über jede Absonderlichkeit, die er an sich beobachtete, sogar über seine Vergesslichkeit, denn sie erinnerte ihn an seine Unzulänglichkeit und bewahrte ihn vor Rechthaberei. Von dieser Maxime «Stelle alles in Frage!» gab es nur eine Ausnahme: Er bestand stets darauf, dass sein religiöser Glaube über jeden Zweifel erhaben sei. Er war gehorsam gegenüber den Dogmen der katholischen Kirche – und Schluss.
Den modernen Leser mag das überraschen. Skeptizismus und institutionalisierte Religion gelten als krasse Gegensätze: Wissenschaft und Vernunft auf der einen, Glaube und Autoritätshörigkeit auf der anderen Seite. Zu Montaignes Lebzeiten wurden die Linien anders gezogen. Die Naturwissenschaft im heutigen Sinn existierte noch nicht, und der menschliche Verstand wurde nur selten als von Gott losgelöst betrachtet. Die Vorstellung, dass der menschliche Verstand von sich aus erkenntnisfähig sei, war genau das, was die Skeptiker bezweifelten. Und da die Kirche zu jener Zeit den Glauben über die «rationale Theologie» stellte, betrachtete sie den Pyrrhonismus als ihren Verbündeten. Der pyrrhonische Zweifel stellte die menschliche Vernunft in Frage und war damit ein nützliches Werkzeug gegen den Protestantismus,der die Gewissensverantwortung des Einzelnen betonte und ihr einen Vorrang gegenüber dem Dogma einräumte.
Aus diesem Grund befürwortete der Katholizismus den Pyrrhonismus über Jahrzehnte hinweg und hielt Bücher wie Henri Estiennes Sextus-Übersetzung und Montaignes Essais für wertvolle Instrumente im Kampf gegen die Häresie. Montaigne unterstützte dieses Bestreben mit seinem Angriff auf die Hybris der menschlichen Vernunft und mit zahlreichen Bekundungen des Fideismus, die in den Essais verstreut sind. Der Glaube, meinte er, müsse unser Inneres durch «eine außergewöhnliche Eingebung» von Gott ergreifen, nicht durch eigene Anstrengungen. Gott liefert gewissermaßen den Teebeutel, wir müssen ihn nur noch mit Wasser aufgießen. Und wenn wir diese Eingebung nicht direkt erhalten, müssen wir uns nur der Kirche überlassen, als eine Art Samowar für die Massen, die den fertigen Glaubensaufguss liefert. Montaigne ließ keinen Zweifel daran, dass er die Oberhoheit der Kirche in religiösen Fragen anerkannte, auch auf die Gefahr hin, dass sie seine Gedanken überwachte. Zu einer Zeit, da alle sich auf das Neue stürzten, schrieb er, habe ihn oft der fraglose Gehorsam gerettet:
Ich halte mich an die Verfassung, die er, Gott, mir zuwies – sonst würde ich unweigerlich endlos hin und her rollen. So aber vermochte ich dank der Gnade Gottes ruhigen und unbeirrten Gewissens den alten Glaubenssätzen unsrer Religion durch all die sektiererischen Spaltungen hindurch völlig treu zu bleiben, die unser Jahrhundert hervorgebracht hat.
Es ist schwer zu sagen, ob die Unbeirrtheit, von der er hier spricht, spiritueller Art war oder ob er mehr an die Unannehmlichkeiten dachte, die damit verbunden waren, wenn man ihn als Häretiker bezeichnet hätte und wenn seine Bücher verbrannt worden wären. Der Fideismus konnte ein praktisches Deckmäntelchen für den heimlichen Unglauben sein. Nachdem man Gott Tribut gezollt und sich gegen den Vorwurf der Irreligiosität gewappnet hatte, konnte man so irreligiös sein, wie man wollte. Welchen Vorwurf konnte man gegen jemanden erheben, der die Unterwerfung unter den Willen Gottes und die Lehren der Kirche propagierte? Doch schließlich erkannte die Kirche diese Gefahr, und im nachfolgenden Jahrhundert geriet der Fideismus in Misskredit.Vorerst aber konnte jeder diesen Weg ungestraft einschlagen. Gehörte Montaigne in diese Kategorie?
Es stimmt, dass ihn religiöse Fragen wenig interessierten. Christliche Grundvorstellungen haben in den Essais kein großes Echo gefunden. Montaigne schien unbeeindruckt von dem Gedanken des Opfers, der Reue und der Erlösung und schien weder die Hölle zu fürchten noch den Himmel zu ersehnen. Hexen und böse Geister beschäftigten ihn weniger als Katzen, die Vögel auf Bäumen hypnotisierten. Wenn Montaigne über den Tod nachdenkt, scheint er zu vergessen, dass er doch eigentlich an ein Leben nach dem Tod glauben sollte. Er schrieb Sätze wie: «Mit eingezognem Kopf stürze ich mich dann blindlings in den Tod: wie in einen lautlos lauernden dunklen Abgrund, der plötzlich
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