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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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unser Wissen von Menschen und Geschehnissen und wie unermesslich groß demgegenüber die Welt. Um noch einmal Hugo Friedrich zu zitieren, hatte Montaigne ein tiefes Bedürfnis, «sich durch das Einmalige, das nicht Rubrizierbare, das Rätselhafte» überraschen zu lassen.
    Und von allem Rätselhaften erstaunte ihn niemand mehr als er selbst, das unergründlichste Phänomen überhaupt. Unendlich oft ertappte er sich dabei, wie seine Ansichten von einem Extrem ins andere umschlugen und wie er binnen Sekunden von einer Emotion zu einer anderen wechselte.
    Ich stehe auf so unsichren und wackligen Füßen, ich gerate so leicht ins Wanken und Schwanken und sehe die Dinge in so wechselhaftem Licht, dass ich mich nüchtern als einen andern empfinde denn nach dem Essen. Wenn meine Gesundheit mir lacht oder ein schöner Tag mit seiner Heiterkeit, wie gut bin ich da zu haben! Kaum drückt mich aber ein Hühnerauge, und schon bin ich unfreundlich, mürrisch und nicht mehr ansprechbar.
    Selbst auf seine simpelsten Wahrnehmungen war kein Verlass. Wenn er an Fieber litt oder eine Arznei eingenommen hatte, schmeckte alles anders oder erschien in einem anderen Licht. Schon eine leichte Erkältung vernebelte ihm den Geist. Demenz ließe den Verstand ganzabstumpfen. Selbst Sokrates würde durch einen Schlaganfall oder einen Gehirnschaden zum Idioten werden, meinte Montaigne, und bisse ihn ein tollwütiger Hund, würde er nur noch Unsinn faseln, «da Gift alle Philosophie, sobald eingekörpert, in rasenden Irrsinn zu treiben vermag». Genau das ist der Punkt: Für Montaigne ist Philosophie tatsächlich dem Körper verhaftet. Sie lebt in individuellen, fehlbaren Menschen, und damit ist sie selbst voller Ungewissheiten. «Diese Saite haben die Philosophen, scheint mir, kaum je angeschlagen.»
    Und wie steht es mit den Sinneswahrnehmungen anderer Spezies? Wie vor ihm schon Sextus vermutete auch Montaigne zu Recht, dass andere Lebewesen die Farben anders wahrnehmen als der Mensch. Vielleicht sehen wir und nicht sie die Dinge «falsch»? Wir haben keine Möglichkeit, herauszufinden, wie Farben wirklich sind. Tiere haben Fähigkeiten, die beim Menschen nur schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden sind, und vielleicht sind einige dieser Fähigkeiten wichtig, um die Welt vollständig zu begreifen. «Wir haben, indem wir unsre fünf Sinne rundum zu Rate zogen, uns eine Wahrheit gebildet; vielleicht aber brauchten wir, um sie sicher und in ihrem Wesen zu erkennen, die Mit- und Zusammenwirkung von deren acht oder zehn.»
    Diese scheinbar beiläufige Bemerkung enthält einen schockierenden Gedanken: dass wir aufgrund unserer Natur nicht in der Lage sind, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Die menschliche Perspektive ist womöglich nicht nur gelegentlich anfällig für fehlerhafte Wahrnehmungen, sondern ist per definitionem beschränkt, und zwar in derselben Weise, wie wir in der Regel (und überheblich, wie wir sind) die Intelligenz eines Hundes beurteilen. Nur ein Mensch mit der ungewöhnlichen Fähigkeit, aus sich herauszutreten, ist zu einem solchen Gedanken in der Lage, und genau das gelang Montaigne. Er konnte gleichsam neben sich treten und sich selbst mit der Maßgabe des pyrrhonischen Urteilsverzichts betrachten. So weit waren selbst die frühen Skeptiker nicht gegangen. Sie zweifelten an allem, doch sie bedachten nicht, wie sehr ihr eigenes Inneres von dieser allgemeinen Unsicherheit betroffen war. Montaigne dagegen war sich dessen stets bewusst:
    Samt Verstand rollen und fließen wir wie alle sterblichen Wesen ohne Unterlass dahin. So lässt sich nichts Sicheres von einem aufs andereschließen, befinden sich Urteilender wie Beurteiltes doch in fortwährendem Wechsel und Wandel.
    Das klingt wie eine Sackgasse: als würde man jede Möglichkeit ausschließen, überhaupt etwas erkennen zu können, da es keinen Maßstab gibt, die Dinge miteinander zu vergleichen. Aber dies Wissen um die fortwährende Veränderung kann auch neue Perspektiven eröffnen. Das Leben wird komplexer und interessanter, die Welt zu einer mehrdimensionalen Landschaft, in der jeder Standpunkt in Betracht gezogen werden muss. Diese Tatsache haben wir uns vor Augen zu halten, um «wenigstens durch Schaden klug» zu werden, wie Montaigne es formulierte.
    Selbst für ihn war die disziplinierte Aufmerksamkeit für den jeweiligen Augenblick eine ständige Anstrengung. «Man muss das Bewusstsein der Seele erheblich schärfen, auf dass sie merke, wie sie

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