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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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Menschen und wie töricht und irregeleitet seine Gedanken sind, einschließlich derjenigen des Verfassers, wie Montaigne vergnügt eingesteht.
    Auch viele Fallbeispiele stammen von Plutarch. Doch die treibende Kraft hinter dieser unapologetischen «Apologie» ist nicht Plutarch, jedenfalls nicht er allein. Die treibende Kraft ist die dritte große hellenistische Schule der Philosophie – und die merkwürdigste von allen: die des pyrrhonischen Skeptizismus.

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Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Stelle alles in Frage!
Ich weiß, dass ich nichts weiß, und nicht einmal das weiß ich sicher
    Gegenüber Stoizismus und Epikureismus nimmt der Skeptizismus eine Sonderrolle ein. Stoizismus und Epikureismus erscheinen als gangbare Wege zu Seelenruhe und einem gedeihlichen Leben: als Einübung in den Umgang mit den Schwierigkeiten des Lebens, in Aufmerksamkeit und gute Denkgewohnheiten. Der Skeptizismus scheint weniger lebenspraktisch, sondern eher auf erkenntnistheoretische Probleme ausgerichtet zu sein. Ein Skeptiker gilt als jemand, der Beweise sehen will und in Zweifel zieht, was andere für bare Münze nehmen. Doch in der Antike, als der Skeptizismus zusammen mit anderen pragmatischen philosophischen Strömungen entstand, und noch in der Renaissance wurde er anders gesehen.
    Auch der Skeptizismus verfolgte therapeutische Ziele, zumindest der pyrrhonische Skeptizismus, der nach dem griechischen Philosophen Pyrrhon (gestorben um 275 v. Chr.) benannt und in einer strengeren Form im 2. Jahrhundert n. Chr. von Sextus Empiricus weiterentwickelt wurde. (Der «dogmatische» oder «akademische» Skeptizismus, die andere Spielart, war weniger einflussreich.) Einen Eindruck von der bizarren Wirkung des Pyrrhonismus vermittelt die Geschichte, die Henri Estienne erzählt, ein Zeitgenosse Montaignes und der erste französische Übersetzer des Sextus Empiricus. Als ihm Sextus’ Grundriss der pyrrhonischen Skepsis (die Hypotyposen ) in die Hände fiel, war er in seiner Bibliothek, fühlte sich aber zu krank und zu müde, um konzentriert zu arbeiten, und zog aus einer alten Kiste mit Handschriften ein Exemplar dieses Werks. Er fing an, darin zu lesen, und musste so herzlich lachen, dass seine Müdigkeit verschwand und seine geistige Schaffenskraftzurückkehrte. Ein anderer Gelehrter jener Zeit, Gentian Hervet, machte eine ähnliche Erfahrung. Auch er stieß in der Bibliothek seines Auftraggebers per Zufall auf Sextus, der ihm eine Welt der Unbeschwertheit und Heiterkeit eröffnete. Das Werk war nicht belehrend oder argumentativ, sondern brachte seine Leser vor allem zum Lachen.
    Ein moderner Leser fragt sich vielleicht, was an dem Grundriss der pyrrhonischen Skepsis so erheiternd ist. Zwar enthält es, wie viele philosophische Schriften, tatsächlich einige erheiternde Beispiele, aber hinreißend komisch ist es nicht. Es erschließt sich nicht auf Anhieb, warum Estienne und Hervet durch seine Lektüre von ihrem ennui geheilt wurden – oder warum es einen solchen Eindruck auf Montaigne machte, der in Sextus Empiricus das perfekte Mittel gegen Raymond Sebond und dessen Überschätzung der menschlichen Vernunft sah.
    Grundlegend ist die Entdeckung, dass nichts im Leben ernst genommen werden muss. Der Pyrrhonismus nimmt nicht einmal sich selbst ernst. Der dogmatische Skeptizismus geht davon aus, dass es kein sicheres Wissen gibt – ein Standpunkt, der sich in Sokrates’ Bemerkung zusammenfassen lässt: «Ich weiß, dass ich nichts weiß.» Der pyrrhonische Skeptizismus geht noch einen Schritt weiter: «Und nicht einmal das weiß ich sicher.» Er konstatiert also ein philosophisches Grundprinzip und stellt es im gleichen Atemzug in Frage, so dass am Ende ein Gefühl des Absurden zurückbleibt.
    Ähnlich verfuhren die Pyrrhoneer mit allen Problemen, vor die sie das Leben stellte. Das Kürzel für diese gedankliche Operation ist epoché . Das griechische Wort bedeutet so viel wie «Urteilsenthaltung» – oder in einer von Montaigne selbst gegebenen Erklärung: je soutiens , ich enthalte mich. Diese Antwort entwaffnet jeden Gegner und nimmt ihm den Wind aus den Segeln, so dass seine ganze Argumentation null und nichtig erscheint.
    Das mag so erhebend klingen wie der stoische und epikureische Gedanke der Indifferenz. Aber es funktioniert, und allein darauf kommt es an. Epoché funktioniert ähnlich wie ein Koan im Zen-Buddhismus: eine kurze, rätselhafte Anekdote oder eine unbeantwortbare Frage wie zum Beispiel: «Wie klingt das Klatschen

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