Wie soll ich leben?
ungeordneten Zustand gewesen zu sein: eine Nachlässigkeit, die überraschen mag. In seiner Widmung zur Veröffentlichung der französischen Verse spricht Montaigne davon, dass er «sorgfältig alles gesammelt [hat], was ich Ganzes unter seinen Heften und zerstreuten Papieren hier und dort finden konnte». Eine gewaltige Aufgabe, aber er fand vieles davon veröffentlichenswert, auch La Boéties Sonette. Zum Nachlass zählten auch Übersetzungen antiker Texte, unter anderem von Plutarchs Trostschrift an die Gattin nach dem Tod ihres Kindes und die erste französische Übersetzung von Xenophons Oikonomikos mit Empfehlungen für die Bewirtschaftung der Felder, für die Viehzucht und die häusliche Arbeit – ein Thema, das auch für Montaigne relevant war, da er zu der Zeit im Begriff war, sich aus Bordeaux auf sein Landgut zurückzuziehen.
Nach Sichtung der Manuskripte kümmerte sich Montaigne um deren Veröffentlichung. Er fuhr nach Paris, um sich mit Verlegern zu treffen. Für jede von La Boéties Schriften umwarb er einen geeigneten Schirmherrn und schrieb elegante und schmeichelnde Widmungsbriefe an hochrangige Persönlichkeiten, unter anderem an Michel de l’Hôpital und verschiedene Notabeln aus Bordeaux, aber auch – imFalle von Plutarchs Trostschrift – an seine eigene Frau. Widmungsbriefe waren zu der Zeit zwar ein durchaus gängiges Genre, aber Montaignes Briefe sind ganz besonders lebendig und persönlich. Und einen noch sehr viel persönlicher gehaltenen Text fügte er dieser Werkausgabe hinzu: die Schilderung von La Boéties Sterben. Das ganze Unternehmen bestätigt den Eindruck, dass Montaigne nunmehr in einer literarischen Partnerschaft mit La Boéties Angedenken stand und dass beide gemeinsam eine große Zukunft ins Auge fassen konnten. Montaigne lernte eine Menge über das Verlagswesen und über die Lektüre der modebewussten Pariser – Informationen, die sich ihm später als nützlich erweisen sollten.
Der Bericht über La Boéties Sterben hat die Form eines Briefes an Montaignes eigenen Vater: eine seltsame Wahl. Vielleicht hatte ihn sein Vater, wie schon einmal, gedrängt, diesen Brief zu schreiben. Um 1567 hatte er seinem Sohn einen Auftrag erteilt, der gleichfalls dazu beitrug, aus ihm einen Schriftsteller zu machen.
Diese frühe Herausforderung scheint ein Versuch des Vaters gewesen zu sein, seinen Sohn der Neigung zum Müßiggang zu entreißen: einer jener Tricks, die letztlich dem Wohl des Betroffenen dienten. Noch mit Mitte dreißig hatte Montaigne etwas von einem schmollenden Teenager. Er war unzufrieden mit seiner Tätigkeit als Gerichtsrat am Parlament von Bordeaux, das Leben eines Höflings lehnte er ab, und auch am Ausbau seines Anwesens und seiner Besitzungen zeigte er kein Interesse. Trotz seiner Aufgeschlossenheit für die Literatur machte er keine Anstalten, selbst zu schreiben. Vielleicht spürte Pierre, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, und wollte seinen Sohn auf die Verantwortung vorbereiten, die er schon bald würde übernehmen müssen. Micheau brauchte eine Herausforderung.
Er wollte schreiben: Nun gut, dann sollte er. Pierre händigte ihm einen 500 Seiten starken Folioband mit dem in gestelztem Latein verfassten Text eines katalanischen Theologen aus und trug ihm auf, es gelegentlich für ihn ins Französische zu übersetzen.
Das hätte auch dazu führen können, Montaigne von eigenen literarischen Versuchen abzuschrecken; und vielleicht war genau dies Pierres Absicht. Doch wie es der Zufall wollte, war das Buch nicht nur dick und langatmig; das in ihm vertretene theologische Konzept fandMontaigne entsetzlich. Dadurch wurde er wachgerüttelt. Mehr als die Beschäftigung mit La Boéties nachgelassenen Schriften und vielleicht mehr noch als der Bericht über das Sterben seines Freundes war dieser Übersetzungsauftrag seines Vaters der zündende Funke, der das Feuer der Essais entfachte.
Das Buch hieß Theologia naturalis, sive liber creaturarum (Die Theologie der Natur oder Das Buch der Geschöpfe) . Sein Autor, Raymond Sebond, hatte es 1436 geschrieben, veröffentlicht wurde es jedoch erst 1484, noch vor Montaignes – und Pierres – Geburt. Pierre hatte das Werk von einem seiner lesewütigen Freunde erhalten, mit denen er in Kontakt stand, aber das Lateinische war ihm zu schwierig, und so legte er es beiseite. Als er es Jahre später wieder zur Hand nahm, entdeckte er irgendetwas darin – vielleicht eine Beschränktheit, Widerspenstigkeit und
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