Wie soll ich leben?
Seine Schriften können so aufregend sein wie eine Verfolgungsjagd. Er düst mit uns durch unendliche Räume und Dimensionen. Er denkt über die Leere des Weltalls und die Bedeutungslosigkeit seines eigenen Körpers nach und bemerkt: «Wer sich auf diese Art betrachtet, wird über sich selbst erschrecken.» Descartes lüftete die warme Decke der Pyrrhoneer – den universellen Zweifel – und entdeckte Ungeheuer darunter. Pascal tut dasselbe mit einer bevorzugten Technik der Stoiker und Epikureer: der imaginären Reise durch den Raum und dem Gedanken der Bedeutungslosigkeit des Menschen. Dieser Idee folgt er bis an einen Ort des Schreckens:
Wenn ich die Verblendung und das Elend des Menschen sehe, wenn ich bedenke, wie das ganze Weltall stumm ist und der Mensch ohne Erkenntnisvermögen sich selbst überlassen bleibt und sich in diesen Winkel des Weltalls gleichsam verirrt hat, ohne zu wissen, wer ihn dahin gebracht hat, wozu er dorthin gekommen ist, was aus ihm nach seinem Tode wird, so gerate ich, jeglicher Erkenntnis unfähig, in Schrecken wie ein Mensch, den man schlafend auf eine wüste und grauenerregende Insel gebracht hätte und der erwachte, ohne sich zurechtzufinden und ohne eine Möglichkeit, von dort wegzukommen.
Eine aufregende Lektüre, doch nach ein paar Seiten sehnt man sich nach Montaignes entspanntem Humanismus zurück. Pascal möchte, dass sich der Mensch der letzten Dinge bewusst ist: des unendlichen leeren Raums, Gottes, des Todes. Aber nur wenige Menschen schaffen es, lange bei solchen Gedanken zu verweilen. Wir schweifen ab, der Geist wandert zu konkreten Angelegenheiten, die uns persönlich betreffen. Pascal fand das empörend: «Woran aber denkt die Welt? Daran niemals, sondern an Tanz, Lautenspiel, Gesang, Verseschmieden, Ringelstechen usw.» Auch Montaigne stellte gern die großen Fragen, aber er erkundete das Leben lieber durch die Lektüre von Büchern, anhand der Tiere auf seinem Anwesen, der Erlebnisse auf seinen Reisen oder der Probleme des Nachbarn mit seinen Kindern. «Das Empfindungsvermögendes Menschen für die kleinen Dinge und die Unempfindlichkeit für die größten Dinge, ein Zeichen für eine sonderbare Umkehrung», schrieb Pascal. Montaigne hätte es genau andersherum gesagt.
Hundert Jahre später schrieb Voltaire, der Pascal gegenüber eine tiefe Abneigung empfand: «Ich wage die Partei der Menschheit zu ergreifen gegen diesen großen Menschenfeind.» Er zerpflückte siebenundfünfzig Zitate aus den Pensées . «Was mich angeht», schrieb er,
wenn ich London oder Paris betrachte, sehe ich keinen Grund, in die Verzweiflung zu geraten, von der Pascal spricht; ich sehe eine Stadt, die in nichts an eine verlassene Insel erinnert, sondern bevölkert, reich und gesittet ist, wo die Menschen glücklich sind, soweit die Natur das mit sich bringt. Wer ist der kluge Mann, der bereit sein wird, sich zu hängen, weil er Gott nicht gegenüberzutreten weiß und das Geheimnis der Dreieinigkeit nicht zu lösen vermag? […] Warum uns Angst machen vor unserem Wesen? Unsere Existenz ist nicht so unglücklich, wie man es uns glauben machen will. Die Welt als einen Kerker anzusehen und alle Menschen als Verbrecher, die man henken wird, ist die Idee eines Fanatikers.
Voltaire fühlte sich herausgefordert, Pascals «großen Widersacher» zu verteidigen:
Diese bezaubernde Absicht, die Montaigne hatte, sich naiv darzustellen, wie er es getan hat! Denn er hat die menschliche Natur dargestellt; und diese armselige Absicht von […] Pascal, Montaigne zu verschreien!
Voltaire lag ein Credo näher, das Montaigne im letzten Kapitel der Essais so formuliert:
Ich nehme aus ganzem Herzen dankbar entgegen, was die Natur für mich getan hat, ich freue mich darüber und lobe es mir. Man tut dieser großen und allmächtigen Geberin unrecht, wenn man ihre Gabe zurückweist, verunstaltet oder zunichte macht.
Die gelassene Hinnahme des Lebens und des eigenen Ichs, so wie es ist, empörte Pascal fast noch mehr als der pyrrhonische Skeptizismus. Doch beides gehört zusammen. Montaigne zieht alles in Zweifel, doch dann bekräftigt er all das, was vertraut, ungewiss und gewöhnlich ist, denn etwas anderes, so Montaigne, haben wir nicht. Seine Skepsis lässt ihn jene Unvollkommenheit feiern, die Descartes und Pascal hatten überwinden wollen. Montaigne hätte sagen können, warum ihr Bemühen vergeblich war: Niemand kann seinem Menschsein entrinnen. Wir mögen noch so hoch hinaufsteigen, wir bleiben trotzdem
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