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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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unseren Sinn für Gott. T. S. Eliot schreibt:
    Montaigne zählt zu den Autoren, die nur sehr schwer angreifbar sind. Es ist, als würde man versuchen wollen, einen Nebel durch Handgranaten zu zerstreuen. Denn Montaigne ist Nebel, Gas, Flüssigkeit, ein heimtückisches Element. Er argumentiert nicht, er schmeichelt sich ein, bezaubert und überredet, und wenn er argumentiert, muss man aufpassen, dass er nicht einen ganz anderen Plan damit verfolgt.
    Weil Pascal Montaigne nicht besiegen konnte, konnte er nicht aufhören, ihn zu lesen – und über ihn zu schreiben. Er führte einen Kampf, der ihn daran hinderte, zu einem Befreiungsschlag auszuholen. Wenn La Boétie als unsichtbarer Freund hinter Montaignes Essais stand, so stand Montaigne als stets präsenter Feind und Coautor hinter Pascal. Gleichzeitig wusste Pascal, dass das eigentliche Drama in seinem eigenen Innern stattfand. «Nicht bei Montaigne, sondern in mir selbst finde ich alles, was ich dort sehe», räumte er ein.
    Er hätte genauso gut in seine Notizen schauen und sagen können: «Nicht in mir selbst, sondern bei Montaigne finde ich alles, was ich dort sehe.» Er übernahm nämlich Unmengen von Material nahezu wörtlich aus den Essais .

    Montaigne: Wie wir über ein und denselben Gegenstand lachen und weinen.
    Pascal: Daher kommt es, dass man über ein und dieselbe Sache weint und lacht.
    Montaigne: [Sie] streben über sich hinaus und suchen ihrem Menschsein zu entrinnen. Das ist Torheit: Statt sich in Engel zu verwandeln, verwandeln sie sich in Tiere.
    Pascal: Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will, dass derjenige, der ihn zum Engel machen möchte, ihn zum Tier macht.
    Montaigne: Man setze einen Philosophen in einen Käfig aus dünnem, weitmaschigem Drahtgeflecht und hänge ihn darin ganz oben an einen der Türme von Notre-Dame zu Paris: Sein Verstand wird ihm sagen, dass er offensichtlich nicht herausfallen kann; dennoch dürfte auch ihn (es sei denn, er gehe der Dachdeckerei nach) der Blick aus dieserschwindelnden Höhe vor Schreck erstarren lassen […]. Oder man lege zwischen die beiden Türme von Notre-Dame einen Balken von genügender Breite, um bequem darauf zu gehen – es gibt trotzdem keine philosophische Weisheit, die derart gefestigt wäre, dass sie uns ermutigen könnte, ihn so zu betreten, wie wir es täten, wenn er auf dem Boden läge.
    Pascal: Bei dem größten Philosophen der Welt, der auf einem Brett steht, das breiter als notwendig ist, wird, wenn unter ihm ein Abgrund liegt, seine Einbildungskraft die Oberhand gewinnen, auch wenn seine Vernunft ihm seine Sicherheit garantiert.

    In The Western Canon nennt Harold Bloom die Pensées einen «schwerwiegenden Fall von Verdauungsstörung». Doch wenn Pascal von Montaigne abschrieb, so veränderte er ihn dabei. Selbst da, wo er Montaigne wörtlich übernimmt, rückt er ihn in ein anderes Licht. Wie Jorge Luis Borges’ Pierre Menard, der im 20. Jahrhundert einen Roman schreibt, der zufällig mit dem Don Quijote identisch ist, so schreibt Pascal dieselben Worte in einem anderen Jahrhundert und mit einem anderen Temperament und erschafft damit etwas Neues.
    Dieser Unterschied in der emotionalen Grundstimmung ist entscheidend. Montaigne und Pascal hatten ein ähnliches Verständnis von den weniger schmeichelhaften Seiten der menschlichen Natur, vom «Menschlichen, Allzumenschlichen», wo Selbstsucht, Trägheit, Kleinlichkeit, Eitelkeit und zahllose andere Schwächen zu finden sind. All das betrachtet Montaigne mit Nachsicht und Humor; für Pascal dagegen war es ein Horror und schlimmer als alles, was Descartes aufzubieten hatte.
    Für Pascal war Fehlbarkeit an sich unerträglich: «Wir haben eine so große Vorstellung von der Seele des Menschen, dass wir es nicht ertragen können, von einer Seele verachtet und nicht von ihr geschätzt zu werden. Und das ganze Glück der Menschen besteht in dieser Wertschätzung.» Für Montaigne waren menschliche Fehler nicht nur erträglich, sie waren beinahe ein Grund zum Jubeln. Pascal wollte keine Beschränktheit hinnehmen, Montaignes ganze Philosophie drehte sich um das Gegenteil. Selbst wenn Montaigne schreibt: «Mir scheint, wir könnten […] nie genug verachtet werden» – was bei Pascal ständigzu lesen ist –, klingt es heiter. Und er fügt noch hinzu, wir seien in den meisten Fällen ebenso dumm wie niederträchtig.
    Pascal fällt von einem Extrem ins andere. Er kennt nur tiefe Verzweiflung oder überschäumende Euphorie.

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