Wie soll ich leben?
dieser diametral entgegengesetzten Traditionslinie, die von den Libertins über Nietzsche bis in unsere Gegenwart verläuft.
Leider gewannen im 17. Jahrhundert die Kritiker Montaignes erneut die Oberhand, als sie sich zu einem regelrechten Feldzug gegen ihn organisierten. 1662 starteten dessen ehemalige Kollegen Pierre Nicole und Antoine Arnauld mit ihrem Bestseller La Logique ou l’art de penser (bekannt unter dem Titel Logique de Port Royal ) einen Angriff gegen Montaigne. In der zweiten Auflage von 1666 riefen sie die katholische Kirche dazu auf, die Essais als eine irreligiöse und gefährliche Schrift auf den Index der verbotenen Bücher zu setzen. Dieser Aufruf wurde zehn Jahre später befolgt, am 28. Januar 1676. Montaigne war damit gebrandmarkt, nicht zuletzt, weil man ihn mit seinen Lesern gleichsetzte, waren doch die Essais inzwischen die Lieblingslektüre einer verrufenen Clique von Gecken, geistreichen Köpfen, Atheisten, Skeptikern und Lebemännern.
Damit begann Montaignes Niedergang in Frankreich. Von der ersten Veröffentlichung der Essais im Jahr 1580 bis zum Jahr 1669 waren immer wieder neue Ausgaben erschienen, dazu populäre Editionen, die die Aufmerksamkeit der Leser auf die explizit pyrrhonischen Passagen lenkten. Nach der Ächtung durch die Kirche war es damit vorbei. Das Werk konnte in katholischen Ländern weder erscheinen noch verkauft werden; kein französischer Verleger durfte einen solchen Schritt wagen. Jahrelang war das Buch nur in zensierten oder ausländischen Ausgaben erhältlich, Letztere oft auf Französisch und dafür gedacht, von einer nonkonformistischen Leserschaft ins Land geschmuggelt zu werden.
Montaigne meinte einmal, dass manche Bücher, «wenn sie verboten sind,umso mehr gekauft und verbreitet werden». In gewisser Weise trifft das auch auf sein eigenes Werk zu. Das Verbot in Frankreich verlieh ihm die Aura des Unwiderstehlichen. Im 18. Jahrhundert lasen ihn besonders die aufrührerischen Philosophen der Aufklärung und politische Revolutionäre.
Letztlich jedoch schadete die Zensur dem Verkauf der Essais mehr, als dass sie ihn beförderte. Sie schränkte die Leserschaft in Frankreich ein, während die Essais in anderen Ländern ein breiteres Publikum erreichten: rebellische Geister ebenso wie die Stützen der Gesellschaft. Die Essais blieben fast zweihundert Jahre auf dem Index, bis zum 27. Mai 1854 – eine Zeit der Verbannung, lange über die ursprünglichen Bedenken des späten 17. Jahrhunderts hinaus.
Pascals Bemerkung, «nicht bei Montaigne, sondern in mir selbst finde ich alles, was ich dort sehe», könnte als das Mantra der gesamten nachfolgenden Wirkungsgeschichte der Essais betrachtet werden. Die Zeiten ändern sich. Jeder neue Leser entdeckt in den Essais sich selbst und fügt damit dem bisherigen Bild neue Bedeutungsnuancen hinzu. Descartes hatte in den Essais zwei albtraumhafte Figuren seiner eigenen Psyche entdeckt: einen bösen Geist, dem die menschliche Vernunft nichts anhaben kann, und ein Tier, das denken konnte. Beides erfüllte ihn mit Schrecken. Pascal und Malebranche erkannten in den Essais die Gefahr, sich vom skeptischen Behagen verführen zu lassen, und auch sie flohen in panischem Entsetzen.
Die Libertins erkannten genau dasselbe, doch sie lächelten nur und zogen amüsiert eine Augenbraue hoch. Auch sie fanden sich in Montaigne wieder. Ihr später Nachkomme Nietzsche gab Montaigne seiner – philosophischen – Heimat zurück: Er verortete ihn erneut im Zentrum der drei Hauptströmungen der hellenistischen Philosophie, die sich mit der Frage beschäftigt hatten, wie man leben soll.
8
Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Habe ein Hinterzimmer
in deinem Geschäft!
Nur mit einer Pobacke
Die Frage, wie man leben soll, beschäftigte Montaigne auch in den 1560er Jahren. Sein eigenes Leben und der Tod seines Freundes La Boétie stellten ihn vor Aufgaben, deren Bewältigung ihn bei den drei Hauptströmungen der hellenistischen Philosophie Rat suchen ließ. Doch sein Skeptizismus ging Hand in Hand mit dem Gehorsam gegenüber den Dogmen der katholischen Kirche – eine Verknüpfung, die damals durchaus nicht als fragwürdig galt. Mit der Übersetzung von Raymond Sebonds Theologia naturalis schloss er sein erstes großes literarisches Projekt ab, er verfasste Widmungsbriefe zu seiner Ausgabe von La Boéties Werken und den Bericht über das Sterben des Freundes. In derselben Zeit vollzog sich noch eine Veränderung in seinem Leben: Er heiratete und
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