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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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irgendjemanden außer ihn selbst zu ängstigen. Sie entstanden als eine ungeordnete Sammlung von Notizen als Vorbereitung auf eine systematischere theologische Abhandlung, deren – wohl sehr viel weniger interessante – Ausarbeitung ihm nicht mehr gelang. Stattdessen hinterließ er uns einen der rätselhaftesten Texte der Literatur,leidenschaftlich hingeworfen zur Abwehr des seiner Ansicht nach gefährlichen Einflusses von Montaignes Essais .
    Blaise Pascal, 1623 in Clermont-Ferrand geboren, zeigte eine frühreife Begabung für Mathematik und naturwissenschaftliche Experimente, er konstruierte sogar eine Rechenmaschine. Im Alter von einunddreißig Jahren hatte er im Kloster Port-Royal-des-Champs ein visionäres Erlebnis, das er in einem Mémorial («Gedenkblatt») festhielt:

    FEUER
    Gewissheit, Gewissheit, Empfinden, Freude, Frieden.
    Der Gott Jesu Christi.
    Deum meum et Deum vostrum .
    Vergessen der Welt und aller Dinge, nur Gottes nicht.
    Er ist allein auf den Wegen zu finden,
    die im Evangelium gelehrt werden.
    Größe der menschlichen Seele.
    Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich.
    Freude, Freude, Freude, Freudentränen.

    Dieses Erlebnis veränderte sein Leben. Den schmalen Pergamentstreifen, auf den diese Zeilen geschrieben waren, nähte Pascal bis zu seinem Tod immer wieder neu in sein Rockfutter ein, und von da an widmete er sich dem theologischen Schreiben und jenen Notizen, aus denen später die Pensées hervorgingen. Ihm blieb nicht viel Zeit. Er starb neununddreißigjährig an einer Gehirnblutung.
    Außer seiner obsessiven Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus verband Pascal wenig mit Descartes. Zutiefst mystisch veranlagt, missfiel ihm Descartes’ Glaube an die Vernunft, und er beklagte den «geometrischen Geist», der seiner Ansicht nach von der Philosophie Besitz ergriffen hatte. Seine Aversion gegen den Rationalismus hätte ihn eigentlich Montaigne näherbringen müssen – was tatsächlich der Fall war, denn die Essais blieben seine ständige Lektüre. Doch die pyrrhonische Tradition, wie sie durch Montaigne vermittelt wurde, empfand auch er als so beunruhigend, dass er kaum eine Seite der «Apologie für Raymond Sebond» lesen konnte, ohne zu seinem Notizbuch zu eilen und über das Gelesene herzuziehen. Pascal wies Montaigne dieRolle eines «großen Widersachers» zu, wie T. S. Eliot die Beziehung zwischen den beiden charakterisierte. Der «große Widersacher» ist ja eigentlich der Teufel, aber diese Charakterisierung ist hier durchaus zutreffend, denn Montaigne war Pascals Peiniger, sein Verführer und Versucher.
    Pascal fürchtete den pyrrhonischen Skeptizismus, weil er ihn – anders als die Leser des 16. Jahrhunderts – als eine Bedrohung des Glaubens betrachtete. Inzwischen galt der Zweifel nicht mehr als Verbündeter der Kirche. Er gehörte in das Reich des Teufels und musste bekämpft werden. Und hier lag das Problem, denn es hatte sich gezeigt, dass der pyrrhonische Skeptizismus schwer zu bekämpfen war. Jeder Versuch einer Auseinandersetzung mit ihm untermauerte nur seine Behauptung, alles könne angezweifelt werden. Ein Verzicht wiederum, argumentativ Partei zu ergreifen, bestätigte bloß die Ansicht der Pyrrhoneer, es sei gut, sich des Urteils zu enthalten.
    In der Wiedergabe eines Gesprächs mit Isaac Le Maître de Sacy, dem geistlichen Leiter des Klosters Port-Royal, fasst Pascal Montaignes pyrrhonische Argumentation – oder das Fehlen einer solchen Argumentation – folgendermaßen zusammen:
    Er setzt alle Dinge einem umfassenden und so allgemeinen Zweifel aus, dass dieser Zweifel sich selbst mit sich reißt, das heißt, er zweifelt, ob er zweifelt, und da er sogar an dieser letzten Voraussetzung zweifelt, dreht sich seine Ungewissheit in einem stetigen und ruhelosen Kreis um sich selbst, wobei er sich gleichermaßen gegen jene wendet, die versichern, alles sei ungewiss, wie gegen jene, die versichern, alles sei nicht ungewiss, weil er nichts als sicher anerkennen will.
    Montaigne finde «in diesem allumfassenden Zweifel eine derart vorteilhafte Stellung, dass er sich durch seinen Sieg wie durch seine Niederlage gleichermaßen darin bestärkt». Man spürt geradezu die Frustration: Wie kann man einen solchen Gegner bekämpfen? Und doch muss man ihn besiegen! Es ist eine moralische Pflicht, da sonst der Zweifel wie eine gewaltige Flutwelle alles mit sich fortreißt: die Welt, wie wir sie kennen, die Würde des Menschen, unsere geistige Gesundheit und

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