Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
Vom Netzwerk:
Metaphern fand, seine Ungewissheiten in einem wahrhaften Horrorszenario:
    Ich will daher voraussetzen, nicht der wohlmeinendste Gott, die Quelle der Wahrheit, sondern irgendein boshafter Genius, ebenso mächtig wie verschlagen, setze all seine Hartnäckigkeit darein, mich zu täuschen: ich werde meinen, der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben,die Gestalten, die Töne und die Gesamtheit alles Äußeren seien nichts anderes als Gaukeleien der Träume, durch die er meiner Leichtgläubigkeit eine Falle gestellt hat. Ich werde mich selbst betrachten, als ob ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut noch irgendeinen Sinn hätte, sondern als ob ich nur fälschlich vermutete, dies alles zu besitzen.
    Böse Geister galten zu Descartes’ Zeit noch als genauso real und beängstigend wie zur Zeit Montaignes. Manche glaubten, sie erfüllten die Welt in Wolken wie Mikroorganismen, die die Luft verschmutzen. Sie und ihr Herr und Meister, der Teufel, könnten aus Luft Täuschungen weben, Lichtstrahlen bündeln und sogar die Gehirnwindungen beeinflussen, damit der Mensch wilde Tiere und Ungeheuer sieht. Ein solcher Geist, so die Vorstellung, könne uns über das wahre Wesen der gesamten materiellen Welt – und über uns selbst – systematisch täuschen und in den Wahnsinn treiben. Das Einzige, was noch schlimmer schien, war die Vorstellung, Gott selbst sei ein solcher Betrüger – ein Gedanke, den Descartes flüchtig erwog, dann aber wieder fallen ließ.
    Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet Descartes, der die reine Vernunft propagierte und den Streichen der Einbildungskraft den Kampf ansagte, alle literarischen Tricks und Kniffe einsetzte, die ihm zur Verfügung standen, um die Emotionen des Lesers zu wecken. Doch wie den meisten Horrorschriftstellern ging es auch ihm letztlich um den Erhalt des Status quo: Der böse Geist bedroht die Ordnung der Dinge, aber er wird besiegt und die Normalität auf ein noch sichereres Fundament gestellt – allerdings nicht wirklich. Im Horrorgenre droht das Monster am Ende oft mit seiner Rückkehr: Es ist nicht wirklich besiegt, sondern wartet nur auf die Fortsetzung. Descartes wollte keine Fortsetzung der Geschichte. Er glaubte, den Abgrund für immer zugeschüttet zu haben – zu Unrecht. Sein Ende der Geschichte, so tröstlich es auch erscheinen mochte, hatte keinen Bestand.
    Ein praktikabler Weg aus dem Dilemma wurde schließlich doch gefunden – nicht durch Descartes’ radikalen Zweifel, sondern durch einen pragmatischen Kompromiss, der Montaignes Denken sehr viel näher stand. Statt nach absoluten Gewissheiten zu streben, lässt die moderne Naturwissenschaft theoretisch den Zweifel zu, während in der Praxis die Erforschung der Welt weitergeht und die Beobachtungenanhand allgemein akzeptierter Methoden mit den Hypothesen verglichen werden. Wir leben so, als gäbe es keinen Abgrund. Wie Montaigne, der sich mit seiner eigenen Fehlbarkeit abfand, akzeptieren auch wir die Welt, wie sie uns entgegentritt, und ziehen nur rein theoretisch die Möglichkeit in Betracht, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt. Der böse Geist lauert hinter den Kulissen, aber das Leben geht weiter.
    Hinter Descartes’ Horrorszenario steht die Frage, was passieren könnte, wenn Montaignes Pyrrhonismus auf einen ängstlicheren, in sich zerrisseneren Geist treffen würde, als ihn das 16. Jahrhundert hervorbringen konnte. Montaigne kannte solche Momente der existentiellen Angst durchaus. Er konnte Sätze schreiben wie: «Wir sind aber, wie soll ich sagen, in uns selber doppelt» und «Wir haben keinerlei Anteil am wahren Sein». Und doch hätte ihn Descartes’ Gefühl, im Meer des Zweifels zu ertrinken, erstaunt.
    Heute finden viele Menschen Descartes’ Horrorvision nachvollziehbarer als das eigentümliche Behagen, das Montaigne und die Pyrrhoneer aus ihrem Skeptizismus ableiteten. Die Vorstellung, all unsere Erfahrung gründe im Nichts, scheint heute keinen Trost mehr zu bieten.
    Unser Bewusstsein von dieser Leere stammt größtenteils von Descartes’ sehr gegenläufiger Interpretation Montaignes. Aber noch ein anderer bedeutender Schüler und Gegenspieler Montaignes im 17. Jahrhundert, den die Implikationen des Pyrrhonismus noch ungleich mehr beunruhigten, hat daran seinen Anteil: der Philosoph und Mystiker Blaise Pascal, gleichfalls ein großer Horrorschriftsteller.
Eine gewaltige Verführungsmaschinerie
    Pascals Pensées (Gedanken) , sein bekanntestes Werk, waren nicht dafür geschrieben,

Weitere Kostenlose Bücher