Wie soll ich leben?
Menschen. Am Schluss des letzten Bandes der Essais schrieb er (in der endgültigen Fassung):
Es ist höchste, fast göttergleiche Vollendung, wenn man das eigene Sein auf rechte Weise zu genießen weiß. Wir suchen andere Lebensformen, weil wir die unsre nicht zu nutzen verstehn; wir wollen über uns hinaus, weil wir nicht erkennen, was in uns ist. Doch wir mögen auf noch so hohe Stelzen steigen – auch auf ihnen müssen wir mit unsren Beinen gehen; und selbst auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserm Arsch.
In guter pyrrhonischer Tradition ist das Hauptargument unwiderlegbar, doch Pascal schien es geboten, zu widersprechen und vor der moralischen Gefahr zu warnen. Die Richtschnur von Montaignes Handeln – «Bequemlichkeit und Sorglosigkeit», wie Pascal es nennt – sei schädlich. Pascal war beunruhigt und verfiel in ohnmächtige Wut, als genieße Montaigne einen Vorteil, der ihm selbst versagt blieb.
In ähnlicher Weise empörte sich ein anderer Leser Montaignes aus derselben Zeit, der Philosoph Nicolas Malebranche. Er war Rationalist und stand Descartes näher als Pascal, aber wie Pascal missbilligte er Montaigne wegen seiner lässigen Grundhaltung und seiner Akzeptanz des Zweifels.
Malebranche erkannte mit einer gewissen Erbitterung, dass die Essais auch in Zukunft ein Bestseller sein würden, da Montaigne gute Geschichten erzähle und an die Einbildungskraft des Lesers appelliere: Damit finde er Anklang. «Seine Ideen sind falsch, aber schön. Seine Ausdrücke gewagt und ungeordnet, aber angenehm.» Montaigne jedochzum reinen Vergnügen zu lesen sei besonders gefährlich. Während man sich in sinnlichem Wohlbehagen ergehe, lulle Montaigne die Vernunft in den Schlaf und injiziere dann sein Gift. «Der Verstand kann an der Lektüre eines Schriftstellers kein Vergnügen finden, wenn er nicht seine Meinungen unterschreibt, wenn er nicht wenigstens etwas von denselben mit seinen eigenen vermischt und so dieselben dunkel und unverständlich macht.» Das Lesevergnügen korrumpiere also Descartes’ «klare und deutliche Ideen». Montaigne brauche weder zu argumentieren noch zu überreden, denn er verführe. Malebranche beschreibt ihn als eine beinahe teuflische Figur, die den Leser zum Narren halte wie Descartes’ böser Geist und ihn zum Zweifel und zu moralischer Laxheit verführe.
Dieses finstere Bild erwies sich als zählebig. Noch 1877 nannte Guillaume Guizot Montaigne den großen «Verführer» unter den französischen Autoren. T. S. Eliot sah ihn ähnlich. Und Gisèle Mathieu-Castellani beschreibt die Essais als eine «gewaltige Verführungsmaschinerie». Montaignes Zauber wirkt durch seine Lässigkeit, seine mäandernde Bewegung, seinen beiläufigen Ton und seine vorgebliche Achtlosigkeit gegenüber dem Leser – alles Tricks, um diesen Leser an sich zu binden und von ihm Besitz zu ergreifen.
Heutige Leser überlassen sich gern einer solchen Verführungsmaschinerie, Leser des 17. Jahrhunderts fühlten sich davon eher bedroht, denn schließlich standen die ernsten Fragen der Vernunft und der Religion auf dem Spiel.
Auch damals allerdings gab es bereits Leser, die Montaigne wegen des Vergnügens schätzten, das er ihnen bereitete. In seinen Charakteren schrieb der Aphoristiker Jean de La Bruyère, Malebranche habe viel zu spitzfindig gedacht, «um sich Gedanken anzupassen, die natürlich sind». Diese natürliche, mit skeptischem Zweifel gepaarte Leichtigkeit brachte Montaigne die Verehrung durch eine neue Art von Denkern ein: den lockeren Bund geistreicher Köpfe und Rebellen, die unter dem Namen Libertins oder Freigeister bekannt wurden.
Der Begriff Libertin beschwört Vorstellungen von einem ausschweifenden Lebenswandel im Stil Casanovas herauf, doch es steckt mehr dahinter (wie im Übrigen auch bei Casanova selbst). Einige Libertins erstrebten zwar tatsächlich sexuelle Freizügigkeit, aber sie verlangtenauch philosophische Freiheit: das Recht zu denken, was ihnen beliebte – politisch, religiös oder sonstwie. Skeptizismus war ein natürlicher Weg zu dieser inneren und äußeren Freiheit.
Zu ihrer bunt gemischten Gruppe gehörten große Philosophen wie Pierre Gassendi ebenso wie weniger bedeutende Gelehrte wie François La Mothe le Vayer oder auch Dichter wie Cyrano de Bergerac, der damals für seinen Science-Fiction-Roman einer Reise zum Mond bekannt war. (Seine Rolle in einer sehr viel berühmteren Geschichte aufgrund seiner markanten Nase kam später.) Auch Montaignes erste
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