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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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«rein natürliche Volksdichtung» (zu der er auch die traditionelle villanelle seiner heimatlichen Guyenne zählte) könne es mit der «Schönheit vollendeter Kunstdichtung durchaus aufnehmen». Und selbst mit der klassischen Dichtkunst könne sie konkurrieren.
    Montaignes «Liebeslied eines Kannibalen» führte außerhalb der Essais ein beachtliches Eigenleben. Chateaubriand entlieh es sich für seine Erinnerungen von jenseits des Grabes , wo es von einer hübschen vierzehnjährigen Indianerin gesungen wird. Nach der Entdeckung des Volkslieds im 18. Jahrhundert wurde es auch in Deutschland bekannt, das an Montaigne zunächst wenig Interesse zeigte. Die beiden Lieder der Kannibalen waren neben einigen lobenden Bemerkungen Montaignes über deutsche Öfen das Einzige aus seinem Werk, das man bis Nietzsche überhaupt wahrnahm. «Verweile Schlange» wurde unter anderem von Ewald Christian von Kleist und Johann Gottfried Herder sowie von Goethe unter dem Titel Liebeslied eines amerikanischen Wilden und Todeslied eines Gefangenen übersetzt. Die deutschen Romantiker mit ihrer Begeisterung für Lieder von Liebe und Tod griffen die von Montaigne übertragenen Lieder auf, alles andere ignorierten sie – aber ähnlich verfahren ja die meisten Leser.
    Wie Léry könnte man auch Montaigne den Vorwurf machen, die Völker der Neuen Welt romantisch zu verklären, doch sein Verständnis der psychologischen Komplexität des Menschen war viel zu tief, als dass er sie zugunsten eines Lebens in der reinen, ungezähmten Natur geopfert hätte. Er wusste, dass die amerikanischen Kulturen ebenso dumm und grausam sein konnten wie die europäischen. Und da Grausamkeit jenes Laster war, das er am meisten verabscheute, versuchte er nicht, deren blutrünstige Rolle in den Religionen der Neuen Welt zu beschönigen. «So verbrennt man die Opfer oft lebendigen Leibes, und wenn sie halb gebraten sind, zerrt man sie vom Feuer, um ihnen Herz und Eingeweide herauszureißen. Manchen, darunter sogar Frauen, zieht man, wiederum lebendigen Leibes, die Haut ab, um diese, bluttriefend wie sie ist, anderen überzuwerfen und sie mit ihr zu maskieren.»
    Er fügte aber hinzu, diese Grausamkeiten wirkten vor allem deshalb so blutrünstig, weil sie den Europäern fremd seien. Auch in Europa gebe es schreckliche Praktiken, an die man sich jedoch gewöhnt habe. «Was mich ärgert, ist keineswegs, dass wir mit Fingern auf die barbarische Grausamkeit solcher Handlungen zeigen», schrieb er, «sehr wohl aber, dass wir bei einem derartigen Scharfblick für die Fehler der Menschenfresser unseren eignen gegenüber so blind sind.» Montaignewollte, dass seine Leser die Augen öffneten und sahen. Die Völker Südamerikas faszinierten ihn nicht um ihrer selbst willen, sie waren ein idealer Spiegel, in dem Montaigne und seine Landsleute sich «aus dem rechten Blickwinkel» betrachten konnten, um aus ihrer Selbstzufriedenheit wachgerüttelt zu werden.
Edle Wilde
    Zur selben Zeit, da sich deutsche Leser ausschließlich für Montaignes Volkslieder interessierten, wurde er von einer neuen Generation französischer Leser wiederentdeckt, die mit den Kannibalen als Spiegelbild ihrer selbst sehr viel mehr anfangen konnten, als Montaigne erwarten durfte.
    Den Anstoß dazu gab eine Ausgabe der Essais , die 1724 erschien. In Frankreich waren die Essais schon seit fünfzig Jahren verboten, jetzt aber wurden sie aus England eingeschmuggelt, als der französische Exilant Pierre Coste, ein Protestant, eine Neuausgabe herausbrachte. Coste stellte ganz bewusst Montaignes subversive Seite in den Vordergrund – nicht indem er in den Text eingriff, sondern indem er Texte hinzufügte, vor allem La Boéties Traktat Von der freiwilligen Knechtschaft , das in seiner Ausgabe von 1727 vollständig enthalten ist. Damit wurde diese Schrift seit den protestantischen Traktaten des 16. Jahrhunderts zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht, und zum allerersten Mal erschien sie gemeinsam mit den Essais – und damit wurde Montaigne plötzlich in ein ganz anderes Licht gerückt. Er gewann die Aura eines Rebellen, im politischen wie im privaten Leben, eines Autors, dessen Philosophie der Unerschütterlichkeit ganz andere Bedeutungsebenen barg. Das von Coste vermittelte Image Montaignes als eines heimlichen Radikalen ist bis heute lebendig. Costes Ausgabe ließ Montaigne als einen freidenkerischen Philosophen der Aufklärung erscheinen, der zweihundert Jahre zu früh geboren worden war. Die Leser des 18.

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