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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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schon ein paar Abschnitte später wäre er unter der Wucht von Rousseaus volltönender Rhetorik ins Grübeln gekommen. Montaigne würde innehalten und versuchen, die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Macht uns die Gesellschaft wirklich herz- und gefühllos, würde er sich fragen. Geht es uns in der Gemeinschaft mit anderen denn nicht besser als allein? Ist der Mensch wirklich frei geboren? Ist er nicht von Anfang an voller Schwächen und Unvollkommenheiten? Geht Geselligkeit wirklich Hand in Hand mit Sklaverei? Und kann, nebenbei gefragt, ein ohne Schleuder geworfener Stein wirklich einen Raubvogel töten?
    Rousseau dagegen hält nie inne oder wechselt die Blickrichtung, er prescht immer weiter vorwärts und reißt viele Leser mit sich. So wurde er zum populärsten Autor seiner Zeit. Schon nach wenigen Seiten erkennt man, wie sehr sich Rousseau von Montaigne unterscheidet, auch wenn viele seiner Ideen von ihm stammen. Der Gefahr, sich in primitivistische Phantasien zu flüchten, entgeht Montaigne dadurch, dass er schon beim Sprechen einen Schritt zur Seite tritt. Sein «Ich bin mir nicht sicher» kommt ihm immer wieder dazwischen. Außerdem verfolgt er ein ganz anderes Ziel als Rousseau. Er will nicht zeigen, dass die moderne Zivilisation korrumpiert ist, sondern dass die Sicht des Menschen auf die Welt von Natur aus korrumpiert und einseitig ist. Das gilt für die brasilianischen Ureinwohner und ihren Blick auf die Franzosen in Rouen ebenso wie für Léry oder Thevet in Brasilien. Die einzige Hoffnung, aus dem Nebel der Fehlinterpretation herauszufinden, besteht darin, sich dieses Nebels bewusst zu werden – und vor sich selbst auf der Hut zu sein. Aber auch das ist keine Lösung, denn wir können unseren Beschränktheiten niemals entfliehen.
    Autoren wie Diderot und Rousseau waren nicht nur von dem «kannibalischen» Montaigne fasziniert, sondern von allen Textabschnitten, in denen er über eine einfache und natürliche Lebensweise schreibt. Jenes Werk Rousseaus, das Montaignes Essais am meisten zu verdanken hat, ist der überaus erfolgreiche Erziehungsroman Émile . Mit der Propagierung einer «natürlichen» Erziehung hat er das Leben einer ganzen Generation von Kindern verändert. Eltern und Lehrer, so Rousseau, sollten ihre Kinder behutsam erziehen und ihnen durch Reisen und Gespräche die Möglichkeit geben, sich von ihrer Neugier leiten zu lassen und die Welt zu entdecken. Gleichzeitig sollten sie, wie kleine Stoiker, an harte Lebensbedingungen gewöhnt werden. Die Anklänge an Montaignes Essai über die Erziehung sind offenkundig, auch wenn Rousseau Montaigne nur gelegentlich erwähnt, meist, um ihn anzugreifen.
    Massive Kritik an Montaigne übt er beispielsweise im Vorwort zu den Bekenntnissen , seiner Autobiographie, die sich stark an Montaignes Projekt der Selbstbeschreibung orientiert. In diesem Vorwort, das in späteren Ausgaben meist fehlt, weist Rousseau diese Abhängigkeit zurück: «Ich rechne Montaigne an vorderster Stelle zu denen, diedadurch täuschen wollen, dass sie die Wahrheit sagen. Er porträtiert sich selbst als fehlerhaft, gesteht aber nur solche Fehler ein, die ihn liebenswert machen.» Mit anderen Worten: Nicht Montaigne, sondern Rousseau sei der Erste, der einen schonungslos ehrlichen Bericht über sich selbst verfasst hat. Das gibt Rousseau die Freiheit zu behaupten: «Dies ist das einzige Porträt eines Menschen exakt nach der Natur und in seiner ganzen Wahrheit, das es jemals gab und wahrscheinlich jemals geben wird.»
    Anders als Montaignes Essais erzählen Rousseaus Bekenntnisse das Leben chronologisch, angefangen mit der Kindheit; aber auch die Zielrichtung beider Autoren ist unterschiedlich. Rousseau betrachtete sich als eine solche Ausnahmeerscheinung an Brillanz, aber auch an Bosheit, dass er diese einzigartige Kombination von Charaktereigenschaften für die Nachwelt festhalten wollte.
    Ich kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, dass ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben […]. Ob die Natur gut oder übel daran getan hat, die Form zu zerbrechen, in der sie mich gestaltete, das wird man nur beurteilen können, nachdem man mich gelesen hat.
    Montaigne dagegen sah sich als einen durch und durch gewöhnlichen Menschen, in jeder Hinsicht – bis auf seine Angewohnheit, Dinge aufzuschreiben. Er «trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich» und freut sich, ein

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