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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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Jahrhunderts erkannten sich in ihm wieder und fragten sich, warum es so lange gedauert hatte, bis man ihn wirklich verstand.
    Diese neue Generation «aufgeklärter» Leser war von Montaignes Darstellung der mutigen Tupinambá begeistert. Seine kannibalischenStoiker entsprachen perfekt einer neuen Phantasiegestalt: der Figur des edlen Wilden, in dem sich primitive Einfalt mit antikem Heroismus verband und der jetzt zum Objekt einer fast kultischen Verehrung wurde. Anhänger dieses Kults machten sich Montaignes Ansicht zu eigen, Kannibalen hätten ein eigenes Ehrgefühl und hielten der europäischen Zivilisation den Spiegel vor. Dabei ließen sie jedoch außer Acht, dass für Montaigne auch diese Wilden genauso grausam und barbarisch waren wie alle anderen Menschen.
    Zu denen, die von Montaignes Tupinambá angetan waren, zählte der Aufklärer Denis Diderot, einer der Herausgeber der Encyclopédie , einer Monumentalsammlung des gesamten Wissens seiner Zeit. Diderot schrieb aber auch zahllose philosophische Romane, Theaterstücke und Briefe. Er kam schon früh mit Montaignes Essais in Berührung und zitierte daraus in seinen eigenen Werken, nicht immer unter Angabe der Quelle. In dem kurzen Text Supplément au voyage de Bougainville von 1775 (zuerst veröffentlicht 1796) beschrieb Diderot voller Begeisterung die Völker des Südpazifiks, die erst kurz zuvor von den Europäern «entdeckt» worden waren – das zeitgenössische Äquivalent zu Montaignes amerikanischen Eingeborenen. Wie die Tupinambá führten scheinbar auch die Bewohner der Pazifikinseln ein einfaches Leben fast im Zustand der Unschuld. Unerquickliche Aspekte ihrer Kultur konnte man einfach ausblenden, weil die Europäer ohnehin kaum etwas über sie wussten. Es blieb also viel Spielraum für phantasievolle Ausschmückungen, etwa die Vorstellung hedonistischer sexueller Freizügigkeit dieser Eingeborenen. In Diderots Supplément ermahnt einer der Tahitianer die Europäer, sie bräuchten nur ihrer Natur zu folgen, um glücklich zu werden. Das war es, was seine Landsleute hören wollten.
    Das Bild des edlen Wilden wurde von Jean-Jacques Rousseau weiter ausgemalt, der gleichfalls von Montaigne beeinflusst war. Sein mit Anmerkungen versehenes Exemplar der Essais ist bis heute erhalten. Anders als Diderot sah Rousseau in der primitiven Gesellschaft ein Ideal, das nirgendwo auf der Welt verwirklicht worden sei, auch nicht im Pazifik. Sie bilde lediglich den idealtypischen Gegenpol zu realen Gesellschaften. Jede real existierende Zivilisation, so Rousseau, sei per definitionem korrumpiert.
    In seinem Diskurs über die Ungleichheit stellt er sich vor, wie derMensch ohne die Ketten der Zivilisation leben würde: «Ich sehe ein Tier […], wie es sich unter einer Eiche satt isst, wie es am erstbesten Bach seinen Durst löscht, wie es sein Bett am Fuße desselben Baumes findet, der ihm sein Mahl geliefert hat.» Die Erde gibt ihm alles, was er zum Leben braucht. Sie verhätschelt ihn nicht, aber er muss auch nicht verhätschelt werden. Die harten Lebensbedingungen, an die dieser Mensch von Kindheit an gewöhnt war, haben ihn robust und widerstandsfähig gegen Krankheiten gemacht, und er ist stark genug, wilden Tieren unbewaffnet entgegenzutreten. Er kennt keine Axt, benutzt aber seine Muskeln, um dicke Äste abzubrechen. Er verfügt weder über Schleuder noch Gewehr, aber er kann einen Stein mit solcher Kraft werfen, dass ein Raubvogel, der davon getroffen wird, tot zu Boden stürzt. Er kann ebenso schnell laufen wie ein Pferd. Erst «indem er soziabel und Sklave wird, wird er schwach» und lernt die Furcht kennen – und die Verzweiflung. Nie habe man gehört, sagt Rousseau, dass ein Wilder in Freiheit auch nur daran gedacht hätte, sich selbst zu töten. Der zivilisierte Mensch dagegen verliere sogar sein natürliches Mitgefühl. Wenn jemand einem anderen unter dem Fenster eines Philosophen die Kehle durchschneidet, wird sich der Philosoph die Ohren zuhalten und tun, als hätte er nichts gehört. Der natürliche Mensch würde niemals seine innere Stimme ignorieren, die ihm sagt, sich mit seinen Mitmenschen zu identifizieren – eine Stimme sehr ähnlich Montaignes Aufforderung zu Mitgefühl für alle leidenden Kreaturen.
    Wenn man die Chronologie umdreht und sich vorstellt, Montaigne säße in seinem Lehnstuhl und läse Rousseau, könnte man sich fragen, wie lange es gedauert hätte, bis er das Buch weggelegt hätte. Anfangs wäre er ihm vielleicht gefolgt, doch

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