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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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die Zwistigkeiten zwischen Katholiken und Protestanten den Fortbestand ihrer Siedlungen bedrohten. Die erste französische Kolonie in Brasilien, in den 1550er Jahren von Nicolas Durand de Villegaignon unweit der heutigen Stadt Rio de Janeiro gegründet, wurde von diesen religiösen Streitigkeiten so geschwächt, dass sie den Portugiesen zum Opfer fiel. In den 1560er Jahren eroberten die Spanier eine hauptsächlich von Protestanten bewohnte Kolonie in Florida. Zu der Zeit war im französischen Mutterland der Bürgerkrieg in vollem Gang, und es fehlte an Geld, um größere Kolonialexpeditionen auszurüsten. Anders als England und Spanien konnte sich Frankreich im Wettlauf um koloniale Herrschaftsgebiete in Übersee also keine politisch und finanziell lukrative Position sichern. Als es sich schließlich erholt hatte, war es zu spät, den Vorsprung der Konkurrenten aufzuholen.
    Wie viele seiner Generation war auch Montaigne von Amerika fasziniert und betrachtete gleichzeitig die koloniale Eroberung voller Zynismus. Seine Begegnung mit den Tupinambá, die an Bord eines von Villegaignons Schiffen nach Frankreich gekommen waren, bedeutete ihm sehr viel, und er sammelte Objekte aus Südamerika, die er in dem Kuriositätenkabinett seines Turms aufbewahrte: «Muster ihrer Betten, ihrer Schnüre, ihrer Holzschwerter und der im Kampf ihre Handgelenke schützenden gleichfalls hölzernen Armbänder […], ebenso die großen, an einem Ende offnen Rohrstäbe, deren Klang ihnen beim Tanzen den Takt gibt.» Vieles davon stammte wahrscheinlich von einem seinerBediensteten, der eine Zeitlang in Villegaignons Kolonie gelebt hatte und Montaigne mit Matrosen und Kaufleuten bekannt machte. Der Diener selbst war «ein einfacher, ungeschliffner Mensch», aber gerade deshalb betrachtete Montaigne ihn als einen authentischen Zeugen, da er das, was er berichtete, nicht ausschmückte oder überinterpretierte.
    Montaigne las alles, was er zu diesem Thema finden konnte. In seiner Bibliothek standen französische Übersetzungen von López de Gómaras Historia de las Indias und Bartolomé de Las Casas’ Brevisima relación de la destrucción de las Indias , aber auch neuere Werke in französischer Sprache, vornehmlich zwei große, gleichzeitig erschienene Berichte aus Villegaignons Kolonie, die von dem Protestanten Jean de Léry und dem Katholiken André Thevet stammten. Er gab Lérys Histoire d’un voyage fait en la terre du Brésil (1578) den Vorzug, der die Gemeinschaft der Tupinambá wohlwollend und sehr genau beschrieb. Wie es sich für einen protestantischen Puritaner gehörte, bewunderte Léry die Tupinambá für ihre schlichte Nacktheit und dafür, dass sie sich nicht mit gekräuselten Krägen und allem möglichen anderen Firlefanz herausputzten wie die Franzosen. Als Grund dafür, dass nur wenige Tupinambá im Alter weißes oder auch nur graues Haar hatten, vermutete er, dass sie nicht von Zwistigkeiten, Geiz, Neid und Ehrgeiz beherrscht wurden. Er bewunderte auch ihre Unerschrockenheit im Kampf. Sie führten blutige Kriege mit hervorragenden Säbeln nur um der Ehre willen, nicht aus Eroberungssucht und Beutegier. Solche Kriege endeten in der Regel mit einem großen Festmahl, in dessen Verlauf Kriegsgefangene getötet und verspeist wurden. Léry selbst hatte an einem solchen Ereignis teilgenommen. In jener Nacht wachte er in seiner Hängematte auf, weil vor ihm plötzlich ein Wilder stand, in der Hand einen gebratenen Menschenfuß. Léry erschrak zu Tode, zur Belustigung der Wilden, die ihn umringten. Später erklärte man ihm, der Wilde habe sich über sein Kommen gefreut und ihm seine Gastfreundschaft dadurch erweisen wollen, dass er ihm ein Stück Menschenfleisch zum Essen anbot. Damit war Lérys Vertrauen in seine Freunde wiederhergestellt. Er habe sich, wie er schrieb, unter ihnen sicherer gefühlt als «bei unredlichen und entarteten Leuten an vielen Orten Frankreichs». Tatsächlich sollte er in den französischen Bürgerkriegen nicht minder grausame Szenen erleben, als er im Winter 1572bei einer Belagerung der Stadt Sancerre Zeuge wurde, wie die Bewohner Menschenfleisch aßen, um nicht zu verhungern.
    Tupinambá-Indianer beim Tanz, Darstellung von Theodore de Bry, 1552
    Montaigne war ein begeisterter Leser Lérys, und als er in dem Kapitel «Über die Menschenfresser» von seiner eigenen Begegnung mit den Tupinambá berichtete, folgte er Lérys Beispiel, den Gegensatz zu Frankreich und die Implikationen für das

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