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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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des Standpunkts
    Die Dinge aus der Perspektive eines anderen Menschen oder eines Tieres zu sehen, kann man auch einüben. Schriftsteller tun dies ständig. Während Leonard Woolf seine politische Philosophie formulierte, notierte Virginia Woolf in ihr Tagebuch:
    Ich erinnere mich, wie ich am Rande einer Senke lag & wartete, dass L[eonard] kommt & Pilze sammelt, & einen roten Hasen den Hang hinaufhoppeln sah & plötzlich dachte: «Das ist das Erdenleben.» Mir schien, ich könnte sehen, wie erden alles war, & ich selbst eine entwickelte Art Hase, wie wenn ein Besucher vom Mond mich sehen würde.
    Dieser unheimliche, fast halluzinatorische Moment vermittelte Virginia Woolf ein Gefühl dafür, wie sie und der Hase auf jemanden wirken würden, dessen Blick nicht durch Gewohnheit getrübt war. Das Vertraute wurde zu etwas Unvertrautem – ein Trick, den auch die hellenistischen Philosophen anwendeten, wenn sie aus der Perspektive des Weltalls auf das menschliche Leben hinunterblickten. Auch hier kommt es auf die Konzentration der Aufmerksamkeit an. Gewohnheit stumpft ab und schläfert ein, der Wechsel zu einer anderen, ungewohnten Perspektive rüttelt auf. Beim Schreiben bediente sich Montaigne ständig dieses Tricks.
    Oft führte er sich die Sitten und Gebräuche anderer Länder vor Augen und staunte über ihre Willkürlichkeit und Fremdartigkeit. Inseinen Essais «Über die Gewohnheit» und «Über die alten Bräuche» beschreibt er Völker, bei denen die Frauen im Stehen und die Männer am Boden kauernd pinkeln; Kinder werden bis zum Alter von zwölf Jahren gestillt, und man hielt es für verhängnisvoll, einen Säugling am ersten Tag seines Lebens zu stillen; man rasiert sich die Haare auf der linken Körperhälfte, auf der anderen dagegen lässt man sie wachsen; man tötet seinen Vater, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hat; man wischt sich mit einem Schwamm auf einem Stock den Hintern ab und trägt das Haar vorne lang und hinten kurz. Ähnliche Aufzählungen gibt es in der «Apologie für Raymond Sebond»: In Peru zieht man sich die Ohren lang, und Orientalen schwärzen sich die Zähne, weil weiße Zähne als unschön gelten.
    Jede Kultur betrachtet ihre Sitten und Gewohnheiten als Maßstab aller Dinge. In einem Land, in dem man sich die Zähne schwärzt, ist selbstverständlich nur schwarzes Elfenbein schön. Sich diese Unterschiede zu vergegenwärtigen hilft, die eigene eingeschränkte Perspektive zu verlassen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. «Diese weite Welt», schrieb Montaigne, «ist der Spiegel, in den wir schauen müssen, um uns aus dem rechten Blickwinkel zu sehn.» Dann betrachten wir unser eigenes Leben mit anderen Augen und öffnen unseren Blick für die Erkenntnis, dass unsere Sitten nicht weniger eigentümlich sind als die der anderen.
    Montaignes Interesse an solchen Perspektivwechseln geht zurück auf seine Begegnung mit den Tupinambá in Rouen, die staunend und verwundert ihre neue Umgebung betrachteten. Diese Eingeborenen zu beobachten, wie sie wiederum die Franzosen beobachteten, war für Montaigne ein Erweckungserlebnis, vergleichbar dem von Virginia Woolf. Hier hat auch Montaignes lebenslanges Interesse für die Neue Welt seinen Ursprung – eine Erdhalbkugel, die den Europäern bis wenige Jahrzehnte vor seiner Geburt unbekannt war und immer noch fast unglaublich erschien.
    Als Montaigne geboren wurde, hatten die meisten Europäer die Existenz Amerikas akzeptiert, das nun nicht länger als eine Ausgeburt der Phantasie betrachtet wurde. Manche hatten angefangen, Chili und Schokolade zu essen, und einige rauchten auch Tabak. Man hatte begonnen, Kartoffeln anzubauen, die aufgrund ihrer an Hoden erinnerndenForm als Aphrodisiakum galten. Reisende brachten aus diesen Weltgegenden Geschichten über Kannibalismus und Menschenopfer oder über sagenhafte Gold- und Silberreichtümer in ihre Heimat zurück. Als die Lebensverhältnisse in Europa schwieriger wurden, erwogen viele die Auswanderung, und an der Ostküste Amerikas entstanden die ersten Kolonien. Die meisten dieser Auswanderer waren Spanier, aber auch Franzosen versuchten ihr Glück. In Montaignes Jugend sah es so aus, als werde das neue koloniale Abenteuer Frankreich den Wohlstand bringen. Das Land verfügte über eine gut ausgerüstete Flotte und große Überseehäfen, zu denen nicht zuletzt Bordeaux zählte.
    Mitte des 16. Jahrhunderts wurden mehrere französische Kolonialexpeditionen unternommen, die jedoch alle scheiterten, da

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