Wie Tau Auf Meiner Haut
Sie hatte jedoch nichts auftreiben können, das ihr mit dem Idiom dieser
Sprache im vierzehnten Jahrhundert weitergeholfen hätte. Sie war vollkommen
entnervt. Die gälische Sprache verfügte über lediglich achtzehn Buchstaben, aber
die Schotten und die Iren hatten sich von dieser Einschränkung freigemacht und
die Rechtschreibung äußerst freizügig gehandhabt. Erschwerend kamen die
archaischen Handschriften und die eigenwillige Wortwahl hinzu. Sie brauchte
doppelt so lange, um einen einzigen Satz auf gälisch zu übersetzen wie eine
ganze Seite auf altenglisch oder lateinisch.
Trotz aller Schwierigkeiten jedoch konnte sie einige Sätze entziffern, die dann
auch einen Sinn ergaben. Der gälische Teil befasste sich mit einem gewissen
Schwarzen Niall, einem Abtrünnigen aus dem schottischen Hochland. Obwohl der
Zusammenhang mit den anderen Dokumenten die Schlussfolgerung nahe legte,
ging Grace doch nicht automatisch davon aus, dass es sich hier um denselben
Mann wie um Niall von Schottland handelte. Sie kannte bereits das Phänomen,
dass ein und derselbe Name unterschiedlich geschrieben wurde, also war es
umgekehrt auch möglich, dass es sich bei gleicher Schreibweise um
unterschiedliche Leute handelte. Schließlich hatte es in Schottland viele
Menschen namens Niall gegeben. Ihr Niall aber war der Niall von Schottland und
von königlichem Blut. Welche Verbindung aber konnte jemand aus dem
königlichen Geschlecht mit einem Abtrünnigen im Hochland haben? Diese
Dokumente unterschieden sich von den anderen, sie hatten eine andere
Handschrift und waren auf einem anderen Papier festgehalten. Vielleicht hatte
man sie ja auch nur versehentlich oder lediglich aufgrund des Namens mit den
anderen vermischt.
Der Schwarze Niall war aber dennoch ein sehr unterhaltsamer Rabauke. Sie
verbrachte fast ihre gesamte Freizeit mit der Entzifferung der Dokumente. Den
Rest ihrer »Mußestunden« verbrachte sie mit einem von Harmonys »wirklich
ekelhaften kleinen Ludern«, einem gewissen Matteo Boyatzis, einem
zartgebauten jungen Mann polnischer und mexikanischer Herkunft. Matty kannte
mehr gemeine Tricks als ein Politiker. Als Gefälligkeit gegenüber Harmony hatte
er sich bereit erklärt, »Julia« ein paar Verteidigungstaktiken beizubringen. Grace
jedoch gab sich keinerlei Illusionen über ihre langsamen Fortschritte hin. Aus ihr
würde wohl nie ein wirklicher Profi werden. Sie hoffte allerdings, die Taktik des
Überraschungsangriffs zu erlernen, um sich und ihre Dokumente zu schützen.
Eigentlich sollte sie sich darüber gar keine Sorgen machen, dachte sie und rieb
sich die Augen. Stundenlanges Lesen unverständlicher Rechtschreibung und
merkwürdiger Betonungen hatte sie so verrückt gemacht, dass sie jeden
Augenblick irre werden konnte. Dann wäre ohnehin gleichgültig, was danach
geschah.
Um sich eine Pause zu gönnen, legte sie die gälischen Papiere beiseite, schaltete
ihren Computer an und fuhr mit dem Cursor bis zu einem Text auf altfranzösisch.
Die Dokumente waren nicht chronologisch geordnet. Die Geschichte
zusammenzufügen war so, als ob man ein Puzzle aus vielen verschiedenen
Altsprachen zusammensetzte. Sofort fiel ihr Blick auf den Namen. Sie war so
darauf fixiert, dass sie das gewohnte Schriftbild schon bemerkt hatte, noch ehe
sie es klar vor Augen hatte. Schwarzer Niall.
»Ist ja wohl nicht möglich«, murmelte sie und lehnte sich vor. Es schien
tatsächlich so, als ob der Schwarze Niall und Niall von Schottland ein und
dieselbe Person gewesen waren. Warum sonst sollten französische Dokumente
sich mit einem fragwürdigen Schotten beschäftigen, außer eben, dass er gar
nicht so sonderlich fragwürdig war? Ein Mitglied des Tempelordens von
königlichem Blut, der aus dem Orden ausgeschlossen wurde und dem der Tod
drohte, sollte er sich jemals aus Schottland fortwagen. In der Obhut dieses
Mannes lag der Schatz - möglicherweise war das etwas abwegig, aber sicherlich
nicht unwichtig. Es hatte damals Leute gegeben, vielleicht ehemalige
Ordensmitglieder, die wussten, wer und was der Schwarze Niall war, und die
seinen Aufenthaltsort vermerkten. Aber königlich? In der Bibliothek von
Newberry hatte sie sich wieder und wieder die Stammbäume angesehen, ein Niall
war in jener Zeitspanne jedoch nicht verzeichnet. »Wer warst du? « flüsterte sie,
als ob sie die Seele eines Mannes berühren könnte, der bereits seit
Jahrhunderten tot war. Sie war sich ihrer blühenden
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