Wie Tau Auf Meiner Haut
Schottland zu vertreiben. Die einzige
Möglichkeit, wie Niall einerseits verwandt und andererseits abtrünnig sein
konnte, war die, dass er ein uneheliches Kind war.
»So muss es gewesen sein«, sagte Grace und lehnte sich heftig atmend zurück.
Die Bedeutung dieser Feststellung und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten
ließen sie nicht stillsitzen. Sie sprang auf und rannte in ihrem engen Zimmer auf
und ab, während sie die vielen Details überdachte und das Puzzle sich Stück um
Stück zusammenfügte. Ein unehelicher Halbbruder war im Mittelalter nichts
Ungewöhnliches - es sei denn, der eheliche Thronfolger strebte die Thronfolge
an. In Schottland wurden Verwandtschaftsbande seit jeher anders gehandhabt
als im restlichen Europa. Während anderswo Nialls unehelicher Status ihm die
Krone von vornherein verwehrt hätte, stand in Schottland demjenigen die Krone
zu, der die Macht hatte, sie sich auf den Kopf zu setzen. Die kriegerischen
Fähigkeiten der Bruces waren zweifelsohne bemerkenswert gewesen, die von
Niall jedoch mussten außergewöhnlich gewesen sein. Seine bloße Existenz hätte
für Robert eine Bedrohung bedeutet.
Erstaunlich war jedoch, dass man sich dieser Bedrohung nicht dadurch entledigt
hatte, den Schwarzen Niall einfach umzubringen. Daraus ließ sich schließen, dass
er in gewisser Weise geachtet und geschätzt wurde. Später war er dem
Tempelorden beigetreten, vielleicht waren seine Bestrebungen also eher
kirchlicher, denn politischer Art gewesen. Aber nach dem, was sie bisher über
den Schwarzen Niall gelesen hatte, war er ganz und gar nicht von der religiösen
Sorte gewesen. Warum also war er dann dem Orden beigetreten? Abenteuerlust?
Reichtum? Sie konnte die Anziehung dieser Dinge auf Niall nachvollziehen, aber
sein Charakter schien viel zu wild und bodenständig zu sein, als dass er sich
bereitwillig irgendwelchen Einschränkungen unterworfen hätte.
Was auch immer die Beweggründe für seinen Beitritt zum Orden gewesen sein
mochten, die Tatsache, dass er es getan hatte, war für den zukünftigen
schottischen König nur von Vorteil. Der Bruce würde sich keine Sorgen darum
machen müssen, dass ein Mönch den Thron besteigen wollte, denn sein
Keuschheitsgelübde hätte zukünftige Thronfolger ausgeschlossen.
Wenn sie die Dokumente richtig deutete, war sein Keuschheitsgelübde mit dem
Zusammenbruch des Ordens hinfällig geworden. Die Andeutungen hinsichtlich
seines bewegten Liebeslebens waren zwar nicht überdeutlich, aber dennoch
kaum falsch zu interpretieren. Als Mönch jedoch hatte Niall sein Gelübde
gehalten. Nach der Zerstörung des Ordens jedoch hatte er sich dem Leben - und
den Frauen - ganz und gar hingegeben. Aber selbst da war er dem Thronfolger
nicht bedrohlich geworden, denn als ehemaliges Mitglied des Tempelordens
musste er jegliche Öffentlichkeit vermeiden.
Dennoch erklärte es vieles: warum Niall Creag Dhu erobern und besetzen
konnte, ohne dass der König einschritt; auch warum Robert der Bruce der einzige
König in ganz Europa war, der die vom Papst geforderte Todesstrafe gegen die
Ordensbrüder nicht in die Tat umsetzte und warum dessen Land für alle
möglichen Verfolgten ein Zufluchtsort geworden war. Robert hatte sich
geweigert, das Todesurteil für seinen Halbbruder zu unterzeichnen. Es erklärte
auch, warum man Niall mit der Wahrung des Schatzes beauftragt hatte: Die
Ordensvorsteher kannten seine Blutsbande und wussten, dass der Schatz
nirgendwo sicherer als in Schottland sein würde.
Sie atmete tief ein. Das Zimmer um sie herum versank in Dunkelheit, als sie sich
der Bedeutung ihrer Entdeckung klar wurde. Der Schatz. Ford und Bryant hatten
sterben müssen, weil in diesen Dokumenten das Versteck des legendären,
verlorenen Schatzes verborgen war. Creag Dhu.
Geld, nichts als Geld stand dahinter. Sie hatten wegen Geld sterben müssen,
wegen Geld, auf das Parrish Sawyer seine Hand legen wollte. Weil sie die
Dokumente besaß, hatte er entweder angenommen, dass sie und damit auch
Ford und Bryant informiert waren, oder er wollte einfach jedes Wissen darüber
vollkommen auslöschen.
Sie hatte geglaubt, die Trauer sei leichter zu ertragen, wenn sie den Grund
kennen würde.
Das aber sollte sich nun als ein Irrtum erweisen.
Conrad lag im fast Dunkeln auf seinem Bett. Die Stadt war niemals vollkommen
dunkel, und über die kargen Hotelwände huschten bunte Neonfarben. Der
neueste Computerausdruck lag auf seinem Tisch,
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