Wie Tau Auf Meiner Haut
für das Wort »Macht«? Autorität,
Recht, Wille, Gewalt. All die Wörter hätte man hier einsetzen können, aber sie
hatten eine unterschiedliche Bedeutung. Wenn sie den Satz wörtlich übersetzte,
welche Macht hatte dann der Hüter? Die Macht über den Schatz, die absolute
Kontrolle darüber? Geld war Macht, wie das Sprichwort schon besagt, aber in den
alten Dokumenten war festgehalten, dass der Schatz »mehr als Gold« wert sei.
Daraus folgte also, dass der Schatz zwar durchaus einen monetären Wert hatte,
sein eigentlicher Wert jedoch darüber hinausging.
Woraus also hatte der Schatz bestanden, und welche Macht hatte der Hüter
ausüben können? Wenn der Schwarze Niall wirklich so unglaublich mächtig
gewesen war, warum hatte er dann sein Leben als Abtrünniger im abgelegenen
westlichen Hochland verbracht? Wie hatte ein Angehöriger des Tempelordens, ein
religiöser Mann also, sich einen solchen Ruf als Frauenheld einhandeln können,
der seinem Ruf als Krieger in nichts nachstand?
Auch nach weiteren zwei Stunden Arbeit tappte sie immer noch im dunkeln. Der
Schatz war entweder »ein Wissen um die Macht Gottes«, was nicht sehr
einleuchtend schien, oder aber »ein Zeugnis von Gottes Willen«, was der Sache
allerdings auch nicht näher kam. Er besaß die Fähigkeit, dass »Könige und
fremde Länder« sich vor ihm verneigten, und er konnte »das Böse tilgen«.
Sie las die Wörter auf dem Bildschirm laut vor. »Der Hüter wird die Grenzen der
Zeit überschreiten, ebenso wie unser Heiland Jesus Christus es getan hat, um
seinen Kampf mit der Schlange auszufechten. « Das hörte sich eher so an, als
sollte der Hüter Jesus' Kampf mit dem Teufel nacheifern. Das wiederum deutete
aber nicht auf irgendeine große Macht hin, sondern eher auf das Bemühen, ein
anständiges Leben zu führen - ein ohnehin schwieriges Unterfangen. Und nach
dem, was sie bisher über den Schwarzen Niall erfahren hatte, hatte dieser noch
nicht einmal einen Versuch in diese Richtung unternommen. Worin bestand also
der Schatz, und was bedeutete die Macht? War es ein religiöser Mythos? Parrish
glaubte allem Anschein nach, dass das Gold tatsächlich existierte. Oberflächlich
betrachtet war das bereits ein ausreichender Grund, aber Grace kam immer
wieder darauf zurück, dass der Schatz mehr als Gold sei und fragte sich, ob sich
nicht mehr als nur großer Reichtum dahinter verbarg. Wenn ja, woraus bestand
dieses »Mehr«? Kein Ordensbruder hatte jemals das Geheimnis preisgegeben,
obwohl einige von ihnen schwer gefoltert worden waren. Vielleicht waren die
meisten ja auch gar nicht eingeweiht, der Großmeister jedoch hatte ganz sicher
davon gewusst. Dennoch war er auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, ohne
dass er das Geheimnis preisgegeben hätte. Statt dessen hatte er König Philipp
von Frankreich und den Papst verflucht, und innerhalb der nächsten zwölf
Monate hatten sowohl Philipp als auch Clemens das Zeitliche gesegnet. Dies
wiederum belebte den Aberglauben, dass die Tempelbrüder mit dem Teufel im
Bunde standen.
Behutsam setzte Grace den unergiebigen Satz in neue Worte. »Der Hüter soll die
Grenzen der Zeit überschreiten, um das Böse zu tilgen. « Manchmal half es,
wenn sie die Sätze in die heutige Umgangssprache übersetzte, um so die
vergangenen Jahrhunderte zu überbrücken. Sie versuchte es noch einmal. »Der
Hüter soll die Zeit damit verbringen, gegen das Böse zu kämpfen. « Welche Zeit?
Die Jahre unmittelbar nach der Zerstörung des Ordens? Wenn dem so war, so
hatte der Schwarze Niall seine Kämpfe bereits einerseits im Bett und
andererseits in den Bergen und Mooren Schottlands ausgetragen.
Das schien ihr wenig sinnvoll, und außerdem war sie zu müde, um mit ihrer
Arbeit fortzufahren. Grace speicherte ihre Datei ab und schaltete den Computer
aus. In den letzten sechs Monaten hatte sie alle Niederschriften zu den Kämpfen
und Eroberungen des Schwarzen Niall auf lateinisch, französisch und englisch
übersetzt, aber manche gälische Passagen hatte sie immer noch nicht entziffern
können. Ja, sogar einige der lateinischen Passagen bereiteten ihr
Schwierigkeiten, weil aus irgendeinem Grund das Wort »Diät« auftauchte. Was
hatte denn die sparsame Aufnahme von Salz mit der Geschichte des
Tempelordens zu tun? Und warum legten sie bei der täglich konsumierten
Wassermenge das Gewicht des einzelnen zugrunde? Dennoch stand mitten in
einer langen Passage über die Pflichten des
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