Wie Tau Auf Meiner Haut
Meisterschaft hatte sie es vielleicht noch nicht gebracht, aber sie hatte doch
eine gewisse Routine in der Handhabung der Waffe erlangt. Jetzt jedenfalls
konnte sie sie mit einiger Selbstverständlichkeit tragen.
Sie bezweifelte, dass irgend jemand aus ihrem früheren Bekanntenkreis sie
heute noch erkennen würde, selbst wenn sie ihr direkt gegenüberstünden. Ihr
langes, dichtes Haar ließ sie nur noch innerhalb ihrer vier Wände offen
herunterfallen. Zur Arbeit trug sie eine billige, hellbraune Perücke, ansonsten
zwirbelte sie ihre Haare zu einem Knoten auf ihrem Kopf zusammen und stülpte
eine Baseballmütze darüber. Mit knapp fünfzig Kilo war sie dünn. Ihre
Wangenknochen stachen deutlich über ihren eingefallenen Wangen hervor. Sie
hatte es geschafft, nicht noch mehr abzunehmen. Dennoch musste sie sich das
Essen ganz bewusst vornehmen, außerdem trainierte sie regelmäßig, um ihre
Kräfte zu erhalten. Sie trug enge Jeans und festes, schwarzes Schuhwerk, dazu
eine pelzgefütterte Leinenjacke, um sich gegen den kalten Winter in Minnesota
zu schützen. Harmonys ausgezeichnetem Ratschlag folgend, hatte sie sich etwas
preiswerte Kosmetika gekauft und gelernt, Lippenstift, Wimperntusche und
Rouge aufzutragen, damit sie nicht wie eine Nonne aussah.
Ein paar Männer hatten sich zu ihr hingezogen gefühlt, aber ein ausdrucksloser,
eiskalter Blick und eine feste Absage hatten sie sofort wieder vergrault. Sie
konnte sich nicht einmal vorstellen, mit einem Mann überhaupt eine Tasse Kaffee
zusammen zu trinken. Nur in ihren Träumen konnte sie das Erwachen ihrer
Sexualität nicht verhindern. Der Schwarze Niall war so oft in ihren Gedanken und
beschäftigte sie so viele Stunden ihres Tages, dass sie ihn nicht aus ihrem
Unterbewusstsein hatte verbannen können. Er war ganz einfach da, er lebte in
ihren Träumen, er kämpfte und liebte, er war unerschrocken, schön, bestürzend
männlich und so bedrohlich, dass sie manchmal vor Angst zitternd aufschreckte.
Sie hatte noch niemals geträumt, dass er sie bedrohte, aber der Schwarze Niall
ihrer Einbildung war kein Mann, den man ungestraft betrügen konnte. Wenn sie
von ihm träumte, fühlte sie sich fast schmerzhaft lebendig. Sie konnte die
endlose, sie den Tag über schützende Leere nicht beibehalten. Bebend sehnte sie
sich nach seiner Berührung. Nur zweimal hatte sie sich mit ihm im Traum geliebt,
aber beide Male waren einfach umwerfend gewesen.
Es war natürlich ein Fehler, sich ausgerechnet jetzt, wo sie schlafen wollte, an
diese Träume zu erinnern. Sie drehte sich unruhig auf die Seite, da sie eine
Wiederholung nicht heraufbeschwören wollte. Die erotischen Träume waren ihr
allerdings lieber als die von irgendwelchen kriegerischen Auseinandersetzungen,
die während der letzten vier Monate ständig vorgekommen waren. In ihren
Träumen watete er durch menschliche Gliedmaßen und durch Blut. Sie konnte
das Klirren der Schwerter hören, sie spürte die Männer ausrutschen und zu
Boden sinken, sie hörte sie mühsam keuchen, sie hörte die qualvollen Schreie
und sah, wie ihre Gesichter sich angesichts des Todes verzerrten. Wenn sie die
Wahl zwischen Krieg und Sex hatte, dann hätte sie, ohne zu zögern, letzteres
gewählt, wenn sie nur nicht hinterher immer von Schuldgefühlen geplagt worden
wäre. Nachdem sie eine volle Stunde so gelegen hatte, setzte sie sich seufzend
auf und richtete sich auf eine schlaflose Nacht ein. Sie war vollkommen
übermüdet, aber ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Wieder und wieder ging
sie ihre Dokumente durch, grübelte über Niall nach und versuchte, irgendeine
Form der Rache gegenüber Parrish auszuhecken. Sie hatte gehofft, etwas aus
den Dokumenten gegen ihn verwenden zu können. Bei genauerem Nachdenken
jedoch musste sie sich eingestehen, dass er in siebenhundert Jahren alten
Dokumenten natürlich nicht erwähnt sein konnte. Wenn sie sich tatsächlich an
Parrish rächen wollte, dann musste sie etwas viel naheliegenderes tun,
beispielsweise ihn eigenhändig ermorden.
Sie stand vom Bett auf und knipste das Licht an. Ihre Augen blickten starr
geradeaus, ihr weicher Mund hatte sich zu einer grimmigen Linie verzogen.
Während der letzten acht Monate hatte sie gelernt, sich selbst zu verteidigen,
vielleicht hätte sie auch aus Notwehr jemanden umbringen können. Ob sie
allerdings einen geplanten Mord durchführen konnte, erschien ihr fraglich. Sie lief
mit um den Körper geschlungenen
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