Wie Tau Auf Meiner Haut
Hüters: Victus Rationem Temporis,
die Ernährung der Zeit oder für die Zeit. Mitten beim Ausziehen ihres T-Shirts
hielt sie inne. Zeit. Warum tauchte dieses Wort sowohl im lateinischen als auch
im gälischen Text auf? Wenn sie sich recht erinnerte, so war eine Anspielung
darauf auch in den französischen Dokumenten aufgetaucht. Hastig drehte sie
sich zu dem wackeligen Tisch um, den sie als Schreibtisch benutzte, und suchte
in den Dokumenten ebendiese Seite. »Von den Ketten der Zeit soll er
unbehindert sein. « Die Zeit überschreiten. Von den Ketten der Zeit befreit sein.
Die Ernährung der Zeit. Irgendwie hingen diese Dinge alle zusammen, auch
wenn sie sich noch keinen Reim darauf machen konnte. Alle erwähnten die Zeit.
War es jedoch wörtlich oder im übertragenen Sinn gemeint? Und was hatte die
Zeit mit dem Tempelorden zu tun? Diese Rätsel würde sie wohl kaum lösen,
indem sie darüber nachgrübelte. Sie würde die Dokumente zu Ende übersetzen
müssen, eine Arbeit, bei der sie das Ende allmählich absehen konnte. Noch drei,
vielleicht auch vier Wochen, und sie hätte den gälischen Teil abgeschlossen.
Gälisch war so schwierig, dass sie es bis zum Schluss aufgeschoben hatte. Sie
konnte sich ihrer Übersetzung dennoch nicht ganz sicher sein, aber sie hatte ihr
Bestes gegeben. Ob die Dokumente ihr noch mehr außer den Ort des Schatzes
verraten würden, musste sie erst noch herausfinden.
Nachdem sie sich für die Nacht zurechtgemacht hatte, packte sie all ihre Papiere
und ihren Computer in die Tasche zurück und legte sie in Reichweite ihres
Bettes. Falls sie überraschend wieder aufbrechen musste, dann wollte sie mit
dem Zusammensuchen ihrer Sachen keine wertvolle Zeit vertrödeln.
Sie machte das Licht aus. Von dem schmalen, holprigen Bett aus betrachtete sie
durch das Fenster hindurch die sanft herunterfallenden Schneeflocken. Die
Jahreszeiten hatten gewechselt, der Sommer war dem Herbst gewichen, die
kräftigen Farben hatten der Eintönigkeit des Winters Platz gemacht. Acht Monate
waren vergangen, seit ihr altes Leben geendet hatte. Sie hatte überlebt, aber sie
hätte nicht behaupten können, dass sie wirklich lebte. Ihr Herz fühlte sich so
blass und karg wie der Winter selbst an. Ihr Hass gegen Parrish hatte ihren
Schmerz etwas verdrängen können, aber eigentlich hatte seine Heftigkeit nicht
nachgelassen. Sie wusste, dass er noch da war, und dass sie ihm eines Tages
nachgeben würde. Diesen Preis würde sie allerdings erst zahlen, wenn die Zeit
dazu reif war.
Jeden Tag wieder dankte sie Harmony. Sie hatte einen Pass auf den Namen
Louisa Croley, so dass sie notfalls das Land blitzschnell verlassen konnte.
Nachdem ihr das gelungen war, hatte sie zusätzlich noch andere Namen
angenommen und neue Arbeit. Zwei Monate lang hatte sie Majorie Flynn
geheißen, dann hatte sie zu Paulette Bottoms gewechselt. Wieder eine schlecht
bezahlte Arbeit, wieder ein neues billiges Zimmer. Das Viertel St. Paul in
Minneapolis war groß genug, um darin unterzutauchen. Da sie niemals jemanden
aus ihrem früheren Bekanntenkreis traf, hatte sie auch keine Schwierigkeiten,
ihren Namen häufig zu ändern. Sie folgte Harmonys Ratschlag und befreundete
sich mit niemandem. Sie hatte jeden Pfennig beiseite gelegt und trotz des
Autokaufs beinahe viertausend Dollar zusammengespart. Niemals wieder würde
sie so hilflos sein wie unmittelbar nach den Morden.
Selbst ohne Geld und Auto wäre sie gar nicht mehr dazu imstande. Denn
teilweise beruhte ihre damalige Hilflosigkeit auf ihrem Unwissen, wie man auf der
Straße überleben konnte. Ihre Miene war kühl und ausdruckslos, und sie lief mit
einer Wachsamkeit, die jedem potentiellen Angreifer signalisierte, dass sie keine
leichte Beute abgeben würde. Zu Hause übte sie Abends die Bewegungsabläufe
und Griffe, die ihr Matty beigebracht hatte. Ihre kargen Zimmer richtete sie sich
so ein, dass sie sich geschützt fühlte und gut arbeiten konnte. Zu keiner Zeit war
sie unbewaffnet. Sie hatte sich eine billige Pistole gekauft und trug sie ständig
bei sich. Zusätzlich besaß sie noch ein Messer, das unsichtbar unter ihrem Hemd
versteckt war. In ihrem Stiefel trug sie einen gespitzten Schraubenzieher, in
ihrem Hemdsärmel war eine Hutnadel eingenäht, und in ihrer Tasche lag ein
Bleistift. Es war nicht einfach gewesen, einen geeigneten Ort für ihre
Schießübungen zu finden. Dazu hatte sie weit ins Land hinausfahren müssen. Bis
zur
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