Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
erwecken, als verwische es die wichtige Unterscheidung zwischen familiären Beziehungen, die man sich nicht aussucht, und Freundschaften im engen Sinn, die gewählt werden. Aber bei näherer Betrachtung ist die Unterscheidung nicht so eindeutig. Alle familiären Beziehungen haben ein Element der Wahlfreiheit – ab einem bestimmten Punkt muss man daran
arbeiten,
Mutter oder Schwester zu sein –, und alle tiefen nichtfamiliären Beziehungen haben eine Verbindlichkeit, die oft darin zum Ausdruck kommt, dass familiäre Bezeichnungen auf sie angewendet werden: Blutsbruder, Mutter Oberin und so fort. Struktur und Bedeutung von Familieund anderen persönlichen Beziehungen sind in unterschiedlichen Kulturen verschieden, aber prinzipiell gehören solche Beziehungen wesentlich zu jeder denkbaren Version eines guten Lebens. »Ohne Freunde möchte niemand leben«, schrieb Aristoteles, »auch wenn er die übrigen Güter alle zusammen besäße.«[ 21 ]
Warum sprechen wir von »Freundschaft« und nicht von »Gemeinschaft«, einem Begriff, der in den letzten Jahrzehnten schrecklich populär geworden ist? Es geht uns um Konkretisierung. Es ist nur allzu leicht, vom »Wohl der Gemeinschaft« zu sprechen, als wäre dies etwas, das unabhängig über dem Wohl der Mitglieder steht. Der Begriff »Freundschaft« eignet sich für solchen Missbrauch nicht. Meine Freundschaft mit Paul ist eindeutig eine
Beziehung
zwischen Paul und mir; sie schwebt nicht geistergleich über uns, mit eigenen Interessen und Rechten. Wenn wir lernen könnten, so über Gemeinschaften zu denken – als Netzwerke von Freunden –, könnte eine berüchtigte Quelle politischer Unterdrückung ausgeschaltet werden.
In der Antike hat man Freundschaft sehr ernst genommen. Aristoteles differenziert in seiner klassischen Erörterung des Themas die eigentliche Freundschaft in die Nutzen-Freundschaft (die auf gemeinsamen Interessen beruht) und die Lust-Freundschaft (die auf gemeinsamen Vergnügungen beruht). Wahre Freundschaft besteht, wenn jeder das Wohl des anderen als sein eigenes betrachtet und dadurch ein neues
gemeinsames
Wohl entstehen lässt. Eine solche Beziehung ist nur zwischen tugendhaften Menschen möglich, die einander um ihrer selbst willen schätzen, nicht wegen dem, was sie zu bieten haben. Freundschaft ist sowohl persönlich wie politisch. Sie verbindet Mitglieder einer Familie und im Weiteren die Bürger einer Polis. Freundschaft ist »für die Staaten das höchste Gut – so nämlich dürfte es am wenigsten zu Bürgerkämpfen kommen«.[ 22 ] Für moderne Ohren klingen solche Worte fremd. Wir sind gewohnt, den Staat als einen Zusammenschluss selbstsüchtiger Individuen zu betrachten und Freundschaft als eine rein private Beziehung ohne politische Bedeutung. Aber von Aristoteles’ Standpunkt ist ein Staat ohne Freundschaft kein Staat. Ein Staat ist nicht nur »eine Gemeinschaftdes Ortes und nicht da, um sich nicht gegenseitig unrecht zu tun und der Warenübermittlung wegen«. Ein Staat ist vielmehr »die Gemeinschaft des guten Lebens sowohl für die Häuser und für die Geschlechter um eines vollendeten und selbstgenügsamen Lebens willen«.[ 23 ]
Einhundertfünfzig Jahre vor Aristoteles teilte Konfuzius auf der anderen Seite der Welt dessen Überzeugung, persönliche Beziehungen seien wichtig für die Politik. »Es gibt selten Menschen, die ihren Eltern mit Ehrfurcht, ihren älteren Brüdern mit Achtung begegnen und die trotzdem gegen die Obrigkeit rebellieren wollen.«[ 24 ] Aber die Ähnlichkeit ist nur oberflächlich. Konfuzius konzentriert sich auf die Ehrerbietung gegenüber der Autorität, nicht auf die Teilhabe an gemeinsamen Gütern. Und während Aristoteles die Familie unter den Oberbegriff
philia
mit einschließt, hebt Konfuzius sie besonders hervor. »Ehrfurcht gegenüber den Eltern und Achtung gegenüber den älteren Brüdern – das sind die Wurzeln der Sittlichkeit.«[ 25 ] Diese Unterschiede in der Einstellung sind bis heute sichtbar. Kinder im Westen betrachten ihre Eltern oft als »Freunde« im engen Sinn, während in China die Beziehung zwischen Eltern und Kindern lebenslang von wechselseitiger Liebe und Opferbereitschaft bestimmt ist.
Freundschaft ist nicht primär ein ökonomisches Gut, aber sie hat ökonomische Voraussetzungen. In Zeiten einer Hungersnot gedeiht gesellschaftliches Vertrauen nicht. Und eine Volkswirtschaft, in der dauernde Umstrukturierungen, Verschlankungen und Produktionsverlagerungen an der Tagesordnung sind,
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