Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Autonomie und die Aristoteliker praktische Vernunft. Aber der Begriff Persönlichkeit beinhaltet noch etwas anderes: ein Element von Spontaneität, Individualität und Tatkraft. Viele Philosophen – Kant selbst fällt einem gleich ein – waren Vorbilder in rationaler Selbststeuerung, aber bedauerlicherweise fehlte ihnen Persönlichkeit.
Warum machen wir einen Unterschied zwischen Persönlichkeit und Respekt? Die beiden Konzepte hängen doch offenbar zusammen: Der Respekt gilt der Persönlichkeit, eine Persönlichkeit verlangt Respekt. Aber es gibt einen feinen Unterschied. Wir können uns eine Gemeinschaft vorstellen – zum Beispiel einen Mönchsorden oder eine revolutionäre Gruppe –, in der alles Eigentum geteilt wird, alle Angelegenheiten offengelegt werden und der Wille eines jeden dem gemeinsamen Wohl untergeordnet ist. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft können hohen Respekt voreinander haben, aber trotzdem würde es ihnen an Persönlichkeit fehlen. Zur Persönlichkeit gehört ein privater Raum, ein »Hinterzimmer«, wie Montaigne sagte, in dem das Individuum sich entfaltenkann, auch sich selbst gegenüber. Der Begriff bezeichnet die Innenseite der Freiheit, das, was den Ansprüchen der öffentlichen Vernunft und Pflicht widersteht.
Persönlichkeit ist ein Ideal, das sich in Europa nach dem Mittelalter entwickelt hat; es entspricht grob dem, was der französische Liberale Benjamin Constant als »moderne Freiheit« bezeichnete. Aber ihre Anziehung wirkt nicht nur lokal. Alle Kulturen haben ihre heiligen Narren und großen Liebenden, die sie in Versen und Liedern verehren, wenn schon nicht im realen Leben. Eine Gesellschaft ohne Persönlichkeit, in der die Individuen ihre sozialen Rollen ohne Spannung und Protest akzeptieren, wäre nicht wirklich menschlich. Es wäre eher eine Kolonie intelligenter sozialer Insekten, von der Art, wie sie in manchen Science-Fiction-Filmen vorkommen.
Im modernen Liberalismus gibt es eine Tendenz, die Persönlichkeit – oder Autonomie, wie sie üblicherweise genannt wird – zum
Ur-
Gut zu erheben, von dem alle anderen guten Dinge abhängen. Etwas in dieser Art liegt, wie wir gesehen haben, dem Widerstreben von Rawls, Sen und Nussbaum zugrunde, letzte Ziele zu erörtern. Wir halten das für einen Fehler. Autonomie ist ein Gut neben anderen und hat keine Vorrangstellung. (Sie kann, ohne dass das absurd wäre, der Liebe geopfert werden.) Losgelöst von einem breiteren ethischen Hintergrund, verkommt Autonomie zu der »Freiheit der Gleichgültigkeit«, für die alles möglich ist und nichts wichtig. Das moderne Reden davon, man könne »Werte wählen«, ist ein Symptom dieser Verwirrung. Richtig verstanden, stellt die Wahl eine
Reaktion
auf Werte dar. Wenn es erlaubt ist, Werte zu
erschaffen,
wird die Wahl willkürlich – wie wenn man Pfeile auf ein Scheunentor schießt und anschließend Zielscheiben darum herum malt.
Privateigentum ist eine wichtige Absicherung der Persönlichkeit, denn es erlaubt Individuen, nach ihren eigenen Vorlieben und Idealen zu leben, frei von der Tyrannei der Bevormundung und der öffentlichen Meinung. »Stabile Vermögen […] sind ein unsichtbarer Aktivposten der Gesellschaft, von dem jede Art von Kultur mehr oder weniger abhängt«, schrieb der französische Ökonom Marcel Labordère in einemBrief an Keynes. »Finanzielle Sicherheit hinsichtlich des eigenen Lebensunterhalts ist eine notwendige Bedingung für organisierte Muße und Nachdenken. Organisierte Muße und Nachdenken sind eine notwendige Bedingung für eine echte, nicht nur mechanische, Zivilisation.«[ 18 ] Halten wir fest, dass
Besitz,
nicht Einkommen, diese befreiende Wirkung hat. Sowjetische Apparatschiks, die Zugang zu allen denkbaren Konsumgütern hatten, aber nicht zu Kapital, konnten keine Persönlichkeit entwickeln. Ebenso wenig die Händler an der Wall Street, deren gigantische Gehälter sich sofort in »notwendige« Ausgaben verflüchtigen.[ **** ] Unabhängigkeit hat nichts mit Überfluss zu tun und ist sehr viel wichtiger.
Die Verteidigung von Eigentum im Interesse der Persönlichkeit spielt in der katholischen Soziallehre eine zentrale Rolle und ist dort Teil eines raffinierten Doppelangriffs sowohl auf den marktwirtschaftlichen Kapitalismus wie auf den Staatssozialismus. Die Grundlage legte Papst Leo XIII. mit seiner Enzyklika
Rerum Novarum
im Jahr 1891. Jeder Familienvater, so der Papst, solle die nötigen Mittel haben, um sich und seine Familie jetzt und in Zukunft
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