Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
hingegebenen Anschauen einer sich erschließenden Rose, eines schlafenden Kindes, eines göttlichen Mysteriums – gleicht sie nicht der Erquickung, die uns zuteil wird in tiefem traumlosem Schlaf?«, schrieb Josef Pieper. »In solcher schweigenden Geöffnetheit der Seele mag auch dem Menschen einmal geschenkt werden, zu gewahren, ›was die Welt im Innersten zusammenhält‹.«[ 32 ] Ohne Muße gibt es keine wirkliche Zivilisation, sondern nur die »mechanische«, von der Marcel Labordère sprach. Die moderne Universität mit ihren »Rankings« und ihrem »Output« verkörpert dieses Schreckgespenst.
Eine solche Konzeption von Muße mag abgehoben und hochgestochenerscheinen, aber das ist nicht unsere Absicht. Alle Formen der Erholung, zu denen aktive, kenntnisreiche Teilnahme gehört – ob man im Park Fußball spielt, die eigenen Möbel herstellt oder verschönert, mit Freunden Gitarre spielt –, sind Muße in unserem Sinn. Nicht auf das intellektuelle Niveau kommt es an, sondern darauf, dass es »zweckhaft ohne Zweck« ist.
Welches sind die ökonomischen Bedingungen für Muße? Erstens eine Reduzierung der
lästigen Pflichten,
eine Kategorie, die nicht nur bezahlte Arbeit beinhaltet, sondern jede notwendige Tätigkeit, auch den Weg zur Arbeit und die Hausarbeit, und bezahlte Arbeit ausschließt, die primär um ihrer selbst willen verrichtet wird wie die Arbeit eines Schriftstellers oder bildenden Künstlers. Wenn die lästigen Pflichten einen so großen Teil des Tages beanspruchen, dass nur Zeit für Schlafen und Essen übrig bleibt, ist Muße unmöglich. Aber nur die lästigen Pflichten zu reduzieren, reicht noch nicht aus für Muße in unserem Sinn, wie Keynes’ Beispiel der gelangweilten Ehefrauen zeigt. »Weise, angenehm und gut« zu leben erfordert nicht nur Zeit, sondern auch Einsatz und Geschmack. Es ist ironisch, wenngleich nicht überraschend, dass die alten Lebenskünste – Konversation, Tanz, gemeinsames Musizieren – gerade in einer Zeit verschwinden, in der wir sie besonders brauchen. Eine Wirtschaft, die auf den maximalen Ausstoß marktfähiger Produkte ausgerichtet ist, wird eher vorgefertigte als spontane Formen der Muße hervorbringen.
D IE B ASISGÜTER V ERWIRKLICHEN
Dies sind also die Basisgüter. Ein Leben, in dem sie alle verwirklicht sind, ist ein gutes Leben. »Verwirklicht« ist natürlich ein vager Begriff. Wie viel Respekt ist nötig, damit dieser Punkt »realisiert« ist? Die Antworten auf diese Frage werden naturgemäß und berechtigt sehr unterschiedlich ausfallen, von Mensch zu Mensch wie von Kultur zu Kultur. Doch wie schon gesagt, Unbestimmtheit ist nicht automatisch eine Schwäche in einer Untersuchung, die ihrem Wesen nach vage ist.
Schwerer wiegt die Möglichkeit von Konflikten. Was ist, wennmeine Selbstverwirklichung verlangt, dass ich mich von einem alten Freund abwende? Was ist, wenn der Genuss der Muße mich zwingt, auf den Respekt zu verzichten, der damit verbunden ist, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen? Solche Dilemmata nähren den Gedanken, dass so etwas wie ein »höchstes Gut« existieren muss, dem alle anderen als Aspekte oder Mittel untergeordnet werden können. Ohne ein solches Gut scheint es keine rationale Basis zu geben, ein Gut höher zu schätzen als ein anderes. Wir stehen vor einem blinden, willkürlichen Sprung – das Dilemma von Existenzialisten wie Jean-Paul Sartre.
In der modernen Literatur zu ethischen Fragen dominieren zwei Kandidaten für die Rolle des höchsten Guts. Der eine ist Glück oder Nützlichkeit, der andere ein »guter Wille« im Sinn von Kant, ein Wille, der dem Moralgesetz gehorcht. Wir finden weder das eine noch das andere einleuchtend. Glück kann aus den in Kapitel 4 dargelegten Gründen nicht unser höchstes Gut sein: Im klassischen Sinn ist es einfach nur ein Synonym für das gute Leben und kann also nicht zwischen seinen verschiedenen Elementen entscheiden. Im üblichen modernen Sinn ist Glück eine angenehme Gemütsverfassung und keineswegs automatisch gut. Auch Kants moralischer Wille kann nicht unser höchstes Gut sein, denn das Konzept ist zu eng, um all die Dinge zu erfassen, die wir im Leben wertschätzen. Nur ein Moralfanatiker (als solchen bezeichnete Nietzsche Kant) kann auf die Idee kommen, dass nichts uneingeschränkt gut ist außer einem guten Willen.
Die Vielfalt ist also unausweichlich. Wir stehen vor »tragischen« Dilemmata, bei denen ein Basisgut einem anderen geopfert werden muss. Aber das sollte uns
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