Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
wird kein gutes Umfeld für tiefe, beständige Beziehungen bieten. »Sie müssen die Blutsauger aus Ihrem Leben verbannen und durch Energiespender ersetzen«, schreibt der amerikanische Lifestyle-Coach Robert Pagliarini; seine Botschaft wird in unzähligen Selbsthilfebüchern und auf entsprechenden Websites wiederholt.[ 26 ] In aristotelischen Begriffen ausgedrückt, sind Freunde, die man darum gewinnt, damit sie einem »Energie spenden«, keine richtigen Freunde, sondern utilitaristische Freunde. Aber solche Freundschaften sind zu erwarten in einer Kultur, die Autonomie und Mobilität über alles andere stellt.
Muße.
Im gegenwärtigen Sprachgebrauch ist Muße ein Synonym für Entspannung und Erholung. Aber es gibt eine andere, ältere Vorstellung von Muße, wonach sie nicht einfach nur arbeitsfreie Zeit ist, sondern eine besondere Form der Tätigkeit nach ihrem eigenen Recht. Muße in diesem Sinn ist das, was wir um seiner selbst willen tun, nicht als Mittel zu etwas anderem. Der Philosoph Leo Strauss schrieb über seinen Freund Kurt Riezler, »die Tätigkeit seines Geistes hatte den Charakter des edlen und ernsthaften Einsatzes von Muße, nicht den von gehetzter Arbeit«.[ 27 ] In diesem Sinn wollen wir »Muße« verstehen.
Muße in unserem Sinn hat nicht viel mit dem Begriff Freizeit zu tun, wie er üblicherweise verwendet wird. Bezahlte Arbeit kann Muße sein, wenn sie nicht primär dem Geldverdienen dient, sondern um ihrer selbst willen geleistet wird. (Viele Schriftsteller würden auch dann weiterschreiben, wenn sie nichts damit verdienen oder mit einer anderen Arbeit mehr verdienen könnten.) Umgekehrt sind viele »Freizeitaktivitäten« nicht Freizeit in unserem Sinn, entweder weil sie instrumentell betrieben werden – man spielt Squash, um abzunehmen – oder weil sie zu passiv sind, um als
Aktivität
zu zählen. (Fernsehen und sich betrinken sind Aktivitäten nur im minimalsten Sinn des Wortes. Ihnen fehlen die Spontaneität und der Kenntnisreichtum, die für Aktivität im vollständigen Sinn charakteristisch sind, und deshalb können sie bestenfalls als »Erholung« gesehen werden und nicht als Muße.) Muße in unserem Verständnis zeichnet sich nicht durch das Fehlen von Ernsthaftigkeit oder Nachdrücklichkeit aus, sondern durch die Abwesenheit von äußerem Zwang. Sie kommt damit dem ziemlich nahe, was Marx als nicht entfremdete Arbeit bezeichnete und als »freie Lebensäußerung, daher Genuss des Lebens«[ 28 ] definierte.
Die Bedeutung der Muße wurde in allen Zivilisationen weltweit anerkannt. Alle drei großen Religionen, die auf Abraham zurückgehen, kennen einen wöchentlichen Sabbat oder Ruhetag, der allerdings nicht ganz Muße in unserem Sinn ist, weil er nicht der frei gewählten Tätigkeit dient, sondern der Anbetung.[ 29 ] Aristoteles kam unserem Verständnis mit seiner Unterscheidung von »freien« und »niedrigen« Künstennäher; Erstere waren eines freien Mannes würdig, Letztere fielen Handwerkern und Sklaven zu. (»Demnach nennen wir auch solche Fertigkeiten, die den Körper in eine allzu schlechte Verfassung bringen, niedrige Fertigkeiten und ebenso auch die Arbeitstätigkeiten um Lohn; sie machen nämlich das Denken mußelos und niedrig.«)[ 30 ] Ganz besonders wurde die Muße in Japan während der Edo-Zeit kultiviert. In Jahrhunderten des Friedens hatte die Feudalaristokratie ihre traditionellen Betätigungen verloren und wandte sich stattdessen den Künsten des Lebens zu. Aus alltäglichen Verrichtungen wie Baden und Teetrinken machte sie exquisite Zeremonien. Der französische Philosoph Alexandre Kojève bezeichnete Japan als die erste »post-historische« Gesellschaft. Wir könnten hoffen, schrieb er nur halb ironisch, »dass der kürzlich begonnene Austausch zwischen Japan und der westlichen Welt nicht zu einem Rückfall der Japaner in die Barbarei führen wird, sondern zu einer ›Japanisierung‹ der Menschen im Westen«.[ 31 ]
Warum ist Muße ein Basisgut? Die Erklärung ist offensichtlich: Ein Leben ohne Muße, in dem alles um etwas anderen willen getan wird, ist nutzlos. Es ist ein Leben in beständiger Vorbereitung, das nie richtig beginnt. Muße ist die Quelle von Nachdenklichkeit und Kultur, denn erst wenn wir uns vom Druck der Notwendigkeit befreit haben,
sehen
wir die andere Welt wirklich, nehmen wir sie in ihrem anderen Charakter und Umriss wahr. (Das altgriechische Wort für Muße,
schole,
enthält diese Konnotation noch.) »Die Erquickung, die uns zuströmt im
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