Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
an seine Prüfung durch einen Nazi-Wissenschaftler erinnert.[ 16 ] Menschen, die regelmäßig solchen Blicken ausgesetzt sind, verhalten sich bald entsprechend. Die Selbstachtung besteht nicht lange, wenn einem die Achtung der anderen entzogen wird.
Respekt muss nicht gleich oder wechselseitig sein. Ich kann jemanden respektieren, der mich weniger oder gar nicht respektiert. Aber gegenseitiger Respekt ist einzigartig befriedigend für beide Seiten, denn unser tiefster Wunsch ist es, dass uns die Menschen, die wir respektieren, ihrerseits respektieren. (Die Bewunderung eines Speichelleckers oder der Masse führt eher zu Selbstverachtung als zu Selbstrespekt.) In allen Zeitaltern finden wir Gruppen von »Ebenbürtigen« oder »Gleichrangigen«, die sich selbst respektierten, aber auf alle anderen herabschauten. Die Athener Bürger waren eine solche Gruppe, der mittelalterliche Adel eine weitere. Die moderne Demokratie weitet den Kreis der Ebenbürtigen auf alle Erwachsenen in einem bestimmten Gebiet aus. Ob ihr Triumph von der Geschichte garantiert ist, wie Francis Fukuyama behauptet hat, oder nicht, zumindest auf dem Papier bekennt sich fast die ganze Welt zur Demokratie. Keine moderne Version des guten Lebenskommt ohne sie aus. Das schließt, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, Überlegenheit und »Hochgesinntheit« aus, die sich prinzipiell nicht auf alle ausdehnen lassen.
Respekt hat viele, von Kultur zu Kultur unterschiedliche Quellen. Stärke, Geld, Landbesitz, Adel, Bildung und Amt standen zu unterschiedlichen Zeiten im Vordergrund. In modernen bürgerlichen Gesellschaften sind die beiden wichtigsten Quellen von Respekt die Bürgerrechte und die persönliche Leistung. Bürgerrechte verleihen »formalen« Respekt, wie man sagen könnte; sie garantieren ihrem Inhaber Schutz vor den schlimmsten Formen willkürlicher Machtausübung. Aber weil alle Bürger ungeachtet ihrer Verdienste Bürgerrechte besitzen, schaffen sie keinen wirklichen Respekt. Dafür muss ein Mensch etwas aus seinem Leben machen; zumindest muss er sein Geld auf ehrliche Weise verdienen. Rang und Titel sichern nicht mehr automatisch Respekt. Heute muss ein Herzog seine Würde unter Beweis stellen, indem er beispielsweise in der Leitung wohltätiger Organisationen sitzt. Ansonsten erscheint er beinahe als Parasit.
Gleichheit beim formalen Respekt kann neben Ungleichheit beim realen Respekt bestehen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn die Kluft zu tief wird, kommt die formale Gleichheit unter Druck. Nehmen wir an (was durchaus einigermaßen plausibel ist), anhaltende Arbeitslosigkeit würde zu einer Spaltung der Gesellschaft in zwei erbliche Kasten führen, eine arbeitende Mehrheit und eine arbeitslose Minderheit. Es wäre dann nur zu einfach, diesen faktischen Unterschied in Gesetze zu gießen und beiden Gruppen unterschiedliche Bürger- und Wahlrechte zuzusprechen. Dann wäre es mit der Demokratie, wie wir sie kennen, vorbei. Für wechselseitigen Respekt ist es auch wichtig, dass die Ungleichheit gewisse Grenzen nicht übersteigt.[ 17 ] Eine Elite, die vollkommen getrennt von der breiten Bevölkerung lebt, spielt und lernt, wird sich nicht mehr durch das Band der gemeinsamen Staatsbürgerschaft mit ihr verbunden fühlen. Demokratische Solidarität erfordert mehr Gleichheit – wenn auch nicht vollkommene Gleichheit – bei der Verteilung von Besitz und Einkommen.
Es ist ein Merkmal unseres Ansatzes im Gegensatz zu den meisten aktuellen liberalen Erörterungen, dass wir der Meinung sind, man könne die Erfordernisse der Gerechtigkeit nicht unabhängig von dem Guten festlegen, sondern müsse dabei einer bestimmten Vorstellung folgen, was gut ist. Gleichheit gründet auf Brüderlichkeit, nicht umgekehrt. Daraus folgt, dass es auf die Frage »wie viel Ungleichheit ist zu viel?« keine abstrakte Antwort
a priori
geben kann, eine Antwort von der Art, wie sie Rawls versucht hat. Man muss die Wirkungen der Ungleichheit auf das moralische und insbesondere auf das politische Gefüge einer Gesellschaft betrachten. Wenn sich die Reichen arrogant über das Gesetz stellen, die Armen ohnmächtig resignieren und Politiker nur dem Geld gehorchen, hat die Ungleichheit die kritische Marke überschritten.
Persönlichkeit.
Mit Persönlichkeit meinen wir vor allem die Fähigkeit, einen Lebensplan zu entwerfen und umzusetzen, der die eigenen Vorlieben, das eigene Temperament und die eigene Vorstellung, was gut ist, widerspiegelt. Die Kantianer nennen das
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