Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
ob religiöser oder ästhetischer Natur, ob der Erholung oder einem anderen Zweck dienend. Alle wertschätzen die natürliche Umwelt mit ihren pflanzlichen und tierischen Bewohnern, sei es in religiöser Verehrung oder durch Malerei oder Dichtung. In allen oder zumindest fast allen Kulturen bedecken die Menschen ihre Genitalien. Alle behandeln ihre Toten mit Respekt und nicht einfach als verwesendes Fleisch.[ 2 ]
Diese und andere Gemeinsamkeiten zeichnen Menschen im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen aus. Sie zeigen eine breite Übereinstimmung über das, was wir die »Basisgüter« nennen könnten – die Dinge, die zu einem guten Leben gehören. Gesundheit, Respekt, Sicherheit, vertrauens- und liebevolle Beziehungen zählen überall zu einem guten menschlichen Leben, ihr Fehlen gilt überall als ein Unglück. Diese Güter erscheinen in vielfältigen Formen. Einem javanischen Prinzen bekundet man auf andere Weise Respekt als einem Londoner Taxifahrer, aber die Vorstellung, was Respekt heißt, ist universell. Das sehen wir daran, dass wir auf die Schilderung von Demütigung in Geschichten aus aller Welt mitfühlend reagieren.[ 3 ] »Denn es ist letzten Endes ›derselbe‹ Mensch«, schreibt der deutsche Philosoph Ernst Cassirer, »der uns in tausend Offenbarungen und in tausend Masken in der Entwicklung der Kultur immer wieder entgegentritt.«[ 4 ] Damit haben wir das Material für eine universelle Erkundung, was ein gutes Leben bedeutet, unabhängig von den Grenzen von Raum und Zeit. Wir sind nicht zu einem chauvinistischen »Zusammenprall der Kulturen« verdammt, der nur durch die Regeln des Marktes oder internationaler Verträge gemildert wird.
Was hat unser Thema mit anderen in letzter Zeit geführten Diskussionen zu tun? In
Eine Theorie der Gerechtigkeit
und anderen Werkenskizzierte John Rawls eine Kategorie von »Grundgütern«, Gütern, die ein rationales Individuum unabhängig von allem anderen haben will, »weil sie im Allgemeinen für die Aufstellung und Ausführung eines vernünftigen Lebensplanes notwendig sind«.[ 5 ] Auf Rawls’ Liste der Grundgüter stehen Menschen- und Bürgerrechte, Einkommen und Besitz, Zugang zu öffentlichen Ämtern und »die sozialen Grundlagen der Selbstachtung«. Grundgüter sind für sich genommen nicht Bestandteile eines guten Lebens, sondern vielmehr die Mittel, um ein gutes Leben führen zu können. Sie sind die äußeren Bedingungen der Autonomie. Ein liberaler Staat muss dafür sorgen, dass sie gerecht unter seinen Angehörigen verteilt sind, aber er soll nicht kontrollieren, zu welchen Zwecken sie verwendet werden, denn das hieße, das Grundprinzip der Neutralität zu verletzen.
Amartya Sen und Martha Nussbaum – der eine kommt aus der Entwicklungsökonomie, die andere aus der Moralphilosophie – haben Rawls vorgeworfen, er beachte nicht, wie unterschiedlich die Menschen in der Lage seien, die Grundgüter in Chancen zu verwandeln. Ein behinderter Mensch wird mehr Geld brauchen, um das gleiche Niveau an physischer Mobilität zu erreichen wie ein nichtbehinderter; ein Mädchen in einer patriarchalischen Kultur wird mehr Bildungsressourcen brauchen, um den gleichen Stand zu erreichen wie ihre männlichen Altersgenossen. Unser Fokus sollte demnach nicht auf Güter gerichtet sein, sondern auf
Befähigungen
– konkrete Spielräume, zu denken und zu handeln. Die Frage sollte nicht lauten, »wie viele Ressourcen stehen Soundso zur Verfügung?«, sondern, »was kann Soundso tun und sein?«. Nussbaum hat eine Liste mit zehn zentralen menschlichen Befähigungen vorgelegt, unter anderem körperliche Gesundheit und Unversehrtheit, Fantasie, Denken, praktischer Verstand, Verbundenheit mit anderen Menschen und Spiel.[ 6 ] Solche Befähigungen, so sagen sie und Sen, definierten den Rahmen für die Bewertung von Lebensqualität. Ihre Ideen waren in der Dritte-Welt-Forschung sehr einflussreich und trugen dazu bei, den Fokus weg vom BIP und hin zu spezielleren Kennzahlen zu verschieben.
Trotz aller Differenzen zu Rawls stimmen Sen und Nussbaum mit ihm überein, was die Sorge um die Autonomie angeht. Eben diese Sorge veranlasst sie, über Rawls’ Liste der Grundgüter hinauszugehen. Martha Nussbaum schreibt über ihr Verhältnis zu Rawls:
Wir wollen einen Ansatz, der das Streben jeder Person nach Gedeihen achtet, der jede Person als einen Zweck und als Quelle von Handlungsfähigkeit und Wert in ihrem eigenen Recht behandelt. Zu dieser Achtung gehört auch, nicht diktatorisch in
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