Wie weiter?
intellektuelle, also auch programmatische und kulturelle Fortentwicklung zwingend mit ein. Und zwar auf historischem Grund. Wir kommen nicht aus dem Nichts, und es gab nie eine historische Stunde Null. Das, so scheint mir, verliert mancher aus dem Blick. Das Fahrrad wurde bereits erfunden. Wir müssen es nicht neu bauen, wohl aber die erprobte Technik studieren.
Die Linken kommen aus Ost und aus West. Und viele werden von der fatalen Neigung beherrscht, die Vergangenheit, die keine gemeinsame war, auch nach dem noch immer vorherrschenden Deutungsraster zu behandeln. »Die DDR-Vergangenheit wird durchdekliniert anhand der bekannten Kategorien von Dafür- und Dagegensein«, schrieb selbstkritisch der Herausgeber des Berliner Tagesspiegel Hermann Rudolph am 8. Juni 2013. Und er fügte die ironische Frage an, »wie denn der Staat DDR so lange existieren konnte, wenn die Gesellschaft mehrheitlich mit ihm nichts am Hut hatte?«
Gleich Rudolph finde ich darum »die anhaltende, feine Nötigung« ärgerlich, »sich rechtfertigen zu müssen«, wenn man aus dem Osten kommt. »Weiter haben wir es, dreiundzwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, offenbar nicht gebracht.« Damit hat er leider recht. Weshalb ich meine, dass wir als deutsche Linke auch selbst souveräner und dialektischer als bislang mit der ostdeutschen Vergangenheit – die einen Erfahrungsvorsprung darstellt – umgehen sollten.
Mit den Erfahrungen von gestern und denen aus der Gegenwart, mit dem Wissen um die Widersprüche in der Welt und die Probleme in unserem Land ziehe ich meine Schlüsse. Was würde ich machen, wenn ich König von Deutschland wär’ …
Im Unterschied zu Helmut Schmidt bin ich nicht der Ansicht, dass jemand mit Visionen besser zum Psychiater denn in die Politik gehen sollte. Und natürlich hatte Bismarck recht, als er meinte, dass Politik die Kunst des Möglichen sei. Das warnt vor Illusionen. Es scheint mir aber auch zu legitimieren, dass Parteien nur noch in Legislaturperioden denken. Mehr Kunst, als in vier Jahren geleistet werden kann, ist eben nicht drin, basta. Diese Einladung zur Genügsamkeit, zum Durchwursteln, zum Weiterwerkeln bedeutet nicht nur Stagnation. Es ist auch gefährlich, weil globale Probleme – Kriege, Klima, Hunger, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Umwelt, Ressourcen etc. – zwingend nach Lösung rufen. Ob sie nun wahrgenommen oder ignoriert werden. Sie stellen sich mit gnadenloser Härte und Konsequenz. Und darum halte ich es mit Che Guevara: »Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche.«
Gregor Gysi
Berlin, im Juni 2013
1. Warum bin ich Sozialist?
I ch betrachte mich als einen libertären demokratischen Sozialisten. Libertär heißt für mich zwar tolerant, keinesfalls aber inkonsequent. Ich toleriere und akzeptiere, dass es in einer Gesellschaft unterschiedliche Interessen gibt. Und weil dies so ist, müssen sie auch unterschiedlich vertreten werden. Ich will keineswegs einen Bundestag etwa ohne konservative Partei. Es gibt in unserer Gesellschaft konservative Interessen, und die müssen auch im Parlament artikuliert werden. Diesbezüglich bin ich vermutlich weiter als die Konservativen, denn die würden sich freuen, wenn linke Interessen nicht im Bundestag vertreten wären.
Und unter demokratisch verstehe ich, dass autoritäre Staatsstrukturen nicht hinnehmbar sind, egal, mit welcher ideologischen oder religiösen Begründung sie installiert wurden oder werden.
Warum aber bin ich Sozialist? Natürlich ist der Staatssozialismus gescheitert, mir sind die Defizite der DDR-Gesellschaft durchaus bewusst. Aber zugleich sehe ich auch ihre Vorzüge, etwa in Bildung, Wissenschaft, Kultur, bei der gesundheitlichen Betreuung etc., Dinge also, die sich im Vergleich mit der gegenwärtigen Praxis als vernünftig und sinnvoll erwiesen haben. Ich will hier nur auf das Beispiel der Polikliniken verweisen, die nun als Ärztezentren neu erfunden wurden. Es herrschte zudem eine größere soziale Gleichheit. Wir kannten weder bittere Armut noch exorbitanten Reichtum.
Das aber reicht mir als Sozialist nicht.
Ich will eine andere, eine neue demokratische Gesellschaft, die anders aussieht als die DDR und anders als die Bundesrepublik. Ich habe mir den Kapitalismus mindestens so kritisch angeschaut wie den Staatssozialismus. Ich kenne inzwischen auch die Schwächen und Stärken des Kapitalismus. Er bringt Top-Leistungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Aber er kann und will auch nicht auf Kriege verzichten.
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