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Wie wollen wir leben

Wie wollen wir leben

Titel: Wie wollen wir leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Maischenberger
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Vizepräsidentin des Bundestags, die Nachricht, dass man die Sitzung im Bundestag unterbrechen werde, weil man sich mit der Öffnung der Mauer beschäftigen müsse. Alle sollten sofort kommen. In diesem Moment kehrte Ackermann zurück und sagte: »Ja, es gibt eine Bestätigung dafür, dass die Mauer offen ist.«
    Gemeinsam gingen wir hinüber in den Plenarsaal – wegen Umbauarbeiten tagte der Bundestag im benachbarten ehemaligen Wasserwerk. Herr Seiters sagte etwas für die Bundesregierung, Herr Dregger sprach für die Union, ich für uns Sozialdemokraten. Willy Brandt saß nur drei Meter vom Rednerpult entfernt. Ich sagte zu ihm gewandt, dass das gerade für ihn ein ganz besonderer Tag sein müsse, denn als Regierender Bürgermeister von Berlin hätte er den Tag des Mauerbaus miterlebt, und jetzt sei die Mauer gefallen. Da hatte er schon Tränen in den Augen.
    Â 
    Und Sie nicht?
    Â 
    Nein, Tränen hatte ich nicht, aber es hat mich unglaublich bewegt. Sechs Monate lang war ja auch ich Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen, 1981, und war aus diesem Grund mit der Teilung der Stadt und den damit verbundenen Problemen sehr vertraut. Wir waren alle überwältigt. Und dann gab es eine Szene, die ich noch in deutlicher Erinnerung habe: Ein oder zwei Kollegen von der Union stimmten die dritte Strophe des Deutschlandlieds an, die meisten haben mitgesungen, die meisten Grünen nicht. Ich fand es ziemlich demokratisch, dass selbst in einer solchen Situation
der Unterschied in der Beurteilung deutlich wird. Willy hat mitgesungen, und ich habe ebenfalls mitgesungen. Bei uns in der SPD waren es vor allem die Älteren.
    Â 
    Ein schöner Moment, dessen Energie bis heute nicht mehr anhält, würde man meinen, oder?
    Â 
    Ich muss etwas dazu ergänzen. Am nächsten Tag war die berühmte Berliner Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus, auf der Willy wohl nicht zum ersten Mal, aber jedenfalls allgemein hör-und wahrnehmbar den berühmten Satz sagte: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.« Als das vorbei war, fuhren wir zum Übergang Invalidenstraße. Wir waren verabredet mit Repräsentanten der neu ins Leben gerufenen SPD in der DDR, mit denen wir schon vorher Kontakt hatten. Einen Tag nach der Gründung in Schwante, in der Nähe von Berlin, das war am 8. Oktober 1989, erfuhren wir davon. Und wir hatten das in einer Presseerklärung vom gleichen Tage ausdrücklich begrüßt. Da standen wir nun am Übergang, und der Grenzoffizier war in Verlegenheit, weil er nicht wusste, was er mit uns machen sollte. Er telefonierte wieder und wieder und tat so, als wenn er Willy Brandt nicht erkennen würde. Uns kamen zu Tausenden die Menschen aus Ostberlin entgegen, die in den Westen hinübergingen, und ich habe selten in meinem Leben so freudige und fröhliche Gesichter gesehen, als sie dann Willy Brandt wahrnahmen. Es war unglaublich. Schließlich sagte der Grenzoffizier: »Sie können einreisen.«
    Â 
    Die Amerikaner wären in der Lage gewesen, aus einem solch bedeutsamen Moment nationaler Geschichte ein Ritual zu entwickeln, eine Erinnerungskultur zu bauen – das war uns nicht gegeben. Wir wählten zum Feiern einen anderen Tag, konnten uns wohl nicht zu Formen durchringen, die dann tatsächlich auch jeden einzelnen Bürger erreichten. Ist unsere Zurückhaltung ein Manko?
    Â 
    Zwei oder drei Bemerkungen dazu. Eine Zeit lang verfolgte man in den entsprechenden Bundestagsgremien den Gedanken, dass der 9. November nationaler Feiertag werden sollte. Dieser Tag fand aber keinen genügenden Widerhall. Es wäre auch ein schwieriger Nationalgedenktag geworden. Der 9. November steht ja für
das Ende des Kaiserreichs 1918, für den Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 und für den Beginn der Novemberpogrome 1938. Auch das gescheiterte Bombenattentat von Georg Elser fand übrigens 1939 an einem 9. November statt. Und schließlich fiel ja die Mauer an einem 9. November. Nun gut, jetzt haben wir den 3. Oktober, um die Deutsche Einheit zu feiern. Es stimmt, wir haben aus dem Ereignis bisher nichts so Symbolisches oder sogar Rituelles ableiten können, wie es die Amerikaner in einem solchen Fall wohl getan hätten. Erwähnen kann ich in diesem Zusammenhang nur die Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. An diesem 9. November 2009 hatte man in Berlin über tausend überdimensional

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