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Wie wollen wir leben

Wie wollen wir leben

Titel: Wie wollen wir leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Maischenberger
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angeeignet.
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    Wie wichtig ist es überhaupt – und darüber wird viel diskutiert –, Friedrich Schillers »Glocke« in der Schule auswendig lernen zu lassen? Müssen wir Goethes Werke bis zu einem gewissen Grad kennen, um etwas zu erhalten, was man den kulturellen Schatz eines Landes nennt?
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    Dieses Auswendiglernen ist im 19. und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts übertrieben worden – aber ein gewisses Maß würde ich sehr befürworten, jedenfalls deshalb, weil man sich die Bilder, die mit diesen Werken verbunden sind, jederzeit ins Bewusstsein rufen kann. Das schafft eine gewisse Nähe zu den Texten, auch zu Schiller oder Goethe. Leiert man es von vorne bis hinten runter, ergibt sich daraus keine Nähe. Bei Paul Gerhardt heißt ein Sommerlied: »Geh aus, mein Herz, und suche Freud.« Und wie gesagt, ich kann Ihnen die ganzen vierzehn Strophen aufsagen …
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    Aus eigenem Antrieb, aber nicht, weil die Schule es Ihnen vorgeschrieben hat; das ist vielleicht eine unterschiedliche Motivation.
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    Als Katholik hätte ich in meinem Religionsunterricht nicht die Aufforderung erwarten können, Paul Gerhardts Lieder auswendig zu lernen. Gerhardt war ein evangelischer Theologe.
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    Mitglieder der von Ihnen 1993 mitgegründeten Vereinigung »Gegen Vergessen – Für Demokratie« gehen an Schulen, bieten unter anderem Einheiten für den Geschichtsunterricht an, zum Beispiel über die DDR-Zeit, aber auch über die Nazi-Zeit – herrscht da so ein Mangel, dass ein privates Projekt aushelfen muss?
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    Ich möchte noch erwähnen, dass zu den Mitbegründern auch Heinz Westphal zählte, der damals Bundestagsvizepräsident war,
und Heinz Putzrath, ein NS-Verfolgter, der wegen seiner jüdischen Abstammung ein hartes Schicksal hinter sich hatte. Wir haben dieses Projekt 1993 ins Leben gerufen, also in einem Jahr, in dem uns schwere rechtsextreme und ausländerfeindliche Ausschreitungen in Mölln, Solingen, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen alarmierten. Wir sagten uns, da können wir nicht nur an den Staat appellieren, da müssen wir selbst etwas tun. Und dazu gehört dann, dass man an das NS-Gewaltregime, seine Verbrechen, seine Täter, seine Opfer und an den Widerstand, aber insbesondere auch an seine Ursachen und dann auch an die zweite Diktatur auf deutschem Boden erinnert. Warum? Um jungen Menschen, um den heranwachsenden Generationen vor Augen zu führen, wohin es in unserer Geschichte geführt hat, wenn man die Menschenwürde mit Füßen tritt, wenn man die demokratischen Prinzipien beiseite wirft und einem lange bejubelten »Führer« Allmacht und Allwissenheit in gotteslästerlicher Weise zuschreibt. Für all das muss man sich Beispiele aus der Geschichte in Erinnerung rufen. In diesem Zusammenhang kann ich immer nur Lessing zitieren: »Erinnern heißt nicht, das Gedächtnis zu belasten, sondern den Verstand zu erleuchten.« So kann man sich gegen neuerliche rechtsradikale Entwicklungen und Tendenzen wappnen und dann etwas dagegen tun.
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    Diejenigen, die das »Dritte Reich« erlebt haben und darüber noch erzählen können, werden in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr Auskunft geben können. Was dann?
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    Das ist wahr. Gegenwärtig sind wir da in einem Umbruch. Noch gibt es einige, die die Hitler-Diktatur erlebt haben, aber es werden immer weniger, die aus ihrem Leben berichten können. Zu denen, die es noch fabelhaft können, zähle ich Max Mannheimer. Mit seinen einundneunzig Jahren schildert er seine Erlebnisse in Auschwitz, in Buchenwald, in Dachau und in anderen Lagern. Ohne mich nur entfernt mit ihm vergleichen zu wollen, versuche auch ich aus meiner NS-Vergangenheit zu berichten – und das findet bei jungen Leuten durchaus Aufmerksamkeit.
    Der Umbruch muss dadurch bewältigt werden, dass wir die
Bilder und Erzählungen in Ausstellungen gegenwärtig halten. Wichtig sind ebenso die Gedenkstätten, ich denke da an Buchenwald, aber auch an Dachau oder Flossenbürg. Sie müssen es dann hauptsächlich leisten, die NS-Geschichte zu vermitteln. Als Orte, an denen man sich konkret erinnern kann, wie dies in Berlin ja schon das Stelenfeld mit seinem Informationszentrum und die »Topographie des Terrors« ermöglichen. Es sind noch weitere Anstrengungen notwendig, aber es ist ein diskutabler Weg. Eines Tages wird dieses Problem auch in

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