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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Rúnar ausgiebig, als wäre es
wichtig für sie, sich so viele Details wie möglich
einzuprägen. Je intensiver sie das versucht, desto mehr
verschwimmen die Linien seines Gesichts zu einer seltsam
verschatteten Maske, und er wird ihr fremder von Minute zu Minute.
Eigentlich ist er ihr die ganze Zeit fremd gewesen. Daran kann auch
ein langer Kuss jetzt nichts mehr ändern. Er schmeckt bereits zu
sehr nach Abschied.
    Liv spürt, wie ihr die Tränen kommen, aber sie weint
nicht. Sollte sie kämpfen? Ist es das, was von ihr verlangt
wird: um die große Liebe zu kämpfen? Aber wie? Sie kann
Rúnar ja nicht zwingen, das Gleiche zu empfinden wie sie. Und
vielleicht hat er ja auch nicht ganz unrecht mit seinen Ansichten
über Heiles und Kaputtes.
    Sie entdeckt einen Troll direkt neben dem Abgrund, steht auf,
schlendert zu ihm hinüber und tätschelt seine felsige
Wange. Erst fühlt sie sich auf wundersame Weise getröstet,
aber dann löst sich ein Stein und trifft sie am Nacken, ein
großer Brocken, der sie mit beträchtlicher Wucht erwischt,
so-dass sie taumelt und für eine Schrecksekunde das
Gleichgewicht zu verlieren droht. In der Tiefe brodelt der Fluss.
Rúnar sitzt im Gras und rührt sich nicht von der Stelle,
die Miene starr, als sei er selbst aus Stein.
    Später, nachdem Liv Halt an einer Flechte gefunden und sich
in Sicherheit gebracht hat, wird er behaupten, er sei zu geschockt
gewesen, um ihr zu Hilfe zu eilen, und sie wird den Fehler machen,
ihm das wider besseres Wissen abzukaufen.
    Â 

Wiedergänger
    Bereits am Abend sitzt Liv im Flieger nach Kopenhagen. Sie glaubt
nicht mehr daran, ihren Großvater in Island finden zu können.
Trotzdem: Ragnar hat versprochen, sich weiter umzuhören. Falls
wider Erwarten eine Spur von Tönges oder Inga auftauchen sollte,
wird er sich sofort melden. Obgleich ihre Reise ein Misserfolg
war,fällt es ihr schwer, das Land zu verlassen. Sie lässt
ihren Blick zum letzten Mal durch das Fenster über die karge
Landschaft neben der Startbahn gleiten. Lava und Moos in
Aderabendsonne, die Konturen des Gesteins gestochen scharf.
    Sie hätte nicht herkommen sollen. Es war naiv von ihr, sich
ausschließlich wegen eines in Island aufgegebenen Briefs, den
sie nie mit eigenen Augen gesehen hat und dessen Inhalt und Absender
sie nicht kennt, auf den Weg hierher zu machen. Das Gefühl von
Niederlage ist überwältigend und weckt Erinnerungen an die
schlimmen Wochen nach der Scheidung. Nur dass ihr Janko niemals so
viel bedeutet hat wie ihr Großvater. Kaum haben sie die
Reiseflughöhe erreicht, lässt sie sich einen Wodka Tonic
bringen.
    Angekommen im Terminal zwei des Flughafens Kastrup, sucht sie
sofort nach dem Stand mit den Hot Dogs. Es ist Mittagszeit, die
Schlange noch länger als bei der Hinreise. Liv stellt sich
trotzdem an. Sie hat Hunger auf Zwiebeln. Ihr schwirrt der Kopf. Wenn
sie zu schnelle Bewegungen macht, kommt ihr sofort das Frühstück
hoch, das die isländische Fluggesellschaft zuvor serviert hat.
Irgendein Brei, der entfernt an Rührei erinnerte.
    Plötzlich ruft jemand ihren Namen. Liv blickt auf. Weiter
vorn, fast schon am Tresen, steht ein Mann, der ihr bekannt vorkommt,
und winkt theatralisch zu ihr herüber. Karottenfarbener Bart,
Stoppelhaare, braungebranntes Gesicht: Geir Gunnarsson, der
Fischexporteur. Ihre trinkfeste Icelandair-Bekanntschaft. Liv ist so
erfreut, dass sie ihm glatt um den Hals fallen könnte.
    Â»Ich bringe dir einen mit«, ruft er und hört
immer noch nicht auf zu winken. »Mit allem?«
    Â»Mit allem.« Liv winkt zurück.
    Bald darauf sitzen sie nebeneinander an einer Bar mit Blick auf
das Rollfeld. Draußen Regen. Drinnen Wodka. Sie haben nur eine
halbe Stunde zusammen, bevor sein Flug nach Keflavík geht, und
sie wollen nicht lange fackeln, sondern ohne Umschweife da
weitermachen, wo sie in Island aufgehört haben.
    Â»Und? Hast du gefunden, was du gesucht hast?«,
erkundigt sich Geir gleich nach dem ersten Drink.
    Liv schüttelt den Kopf und denkt an Rúnar, das Krachen
des Eises auf dem Fjord, das silbrige Licht in Reykjavík nach
Mitternacht. Diese Farben. »Im Gegenteil. Ich hab nur noch mehr
verloren.«
    Â»Scheiße«, sagt er, und mit seinem lispelnden
Akzent klingt das zum Brüllen komisch.
    Er wartet, bis sie fertig gelacht hat, und hebt dann sein Glas:
»Komm, Liv, darauf trinken wir noch einen.«

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