Wiedergaenger
»Auf
meinen Verlust?«
»Und auf meinen. Schlechte Geschäfte, kann ich dir
sagen.« »Na dann: Prost.«
Sie trinken. Danach passiert etwas, das sie erneut in Gelächter
ausbrechen lässt. Zwei Verspätungen werden ausgerufen,
betroffen sind Livs Weiterflug nach Hamburg und Geirs
Islandverbindung. Mindestens drei Stunden werden sie festsitzen. Zeit
genug, um ihm ihr Leid zu klagen, und zwar in aller Ausführlichkeit,
jetzt, da sie fast so etwas wie Freunde geworden sind. Ziemlich zum
Schluss erwähnt sie, dass Rúnar Kantor der
Hallgrimskirche ist.
Geir merkt auf. »Rúnar Jón Atlason?«
Nicht einmal seinen Nachnamen kennt sie, wie Liv erst jetzt
bewusst wird. Trotzdem nickt sie.
»Den kenne ich vom Knabenchor. Später haben wir uns aus
den Augen verloren.Aber Ostern war ich in der Kirche, da hab ich ihn
spielen hören. Durchgeknallter Typ, das hört man sogar
daran, was er mit Bach-Kantaten anstellt.«
Liv zuckt mit den Schultern.
»Du, ich finde, der passt zu dir.«
»Fand ich auch. Er weniger.«
»Idiot.« Geir seufzt und pickt mit dem Finger einen
Zwiebelring auf, der vom Hot Dog liegengeblieben ist. »Hast du
mit seiner Großmutter auch gesprochen?« Er lutscht an der
Zwiebel.
»Wieso?«
»Na ja, weil sie auch aus Deutschland kommt. Die ist
ziemlich hell in der Birne. Jedenfalls war sie das früher. Hat
nie ein Konzert von uns versäumt.«
Liv ist wie vor den Kopf geschlagen, sie braucht eine Weile, um
die Information zu verarbeiten.Ausgerechnet jetzt scheint der Alkohol
seine volle Wirkung zu entfalten. Mit glühenden Wangen versucht
sie, sich zu sammeln, während das Stimmengewirr in der Bar und
das Plärren der Lautsprecherdurchsagen in ihren Ohren dröhnen.
Dass Rúnar ihr seine deutsche Großmutter verschwiegen
hat, lässt ihr die gesamte Begegnung mit ihm noch rätselhafter
erscheinen, seine anfängliche Zuneigung und Hilfsbereitschaft,
danach die Zurückweisung - es ergibt keinen Sinn.Automatisch,
ohne zu kapieren, warum, erfindet sie für ihn eine
Entschuldigung: »Jetzt ist sie nicht mehr hell in der Birne,
seine Großmutter.«
»Ach so«, sagt Geir. »So ist das mit den grauen
Zellen. Irgendwann lassen sie einen im Stich.«
Was sicher auch von Vorteil sein kann. »Komm, Geir, darauf
trinken wir noch einen.«
Als die Seeschwalben in mächtigen Schwärmen auf die
Südküste zufliegen, weiß Fritzi, dass der Kreis sich
nun sehr bald schließen wird. Sie hört den Geländewagen
von ferne und stellt sich in die Tür, von wo aus sie dem
Bergtroll grimmig die Faust zeigt. Ja, sie erkennt diesen Augenblick
wieder: Der veränderte Enkel ist eingetroffen. Er steigt aus,
die Bewegungen langsam, als müsse er sich zu jedem Schritt
zwingen, sein Winken wie zum Abschied, sie hat all das schon einmal
gesehen, wie er auf sie zukommt, die ungewohnt schlechte Haltung: ein
anderer Gang, ein anderer Mensch. Was fehlt, weil doch Teil der
früheren Gegenwart: sein Begrüßungskuss auf die
Wange. Davon, sie zu küssen, ist er weit, weit entfernt.
Stattdessen zwängt er sich stumm an seiner Großmutter
vorbei ins Haus, die Lippen fest aufeinandergepresst.
»Da bist du ja wieder«, stellt sie fest, obwohl das
nicht stimmt. Es ist nicht der Enkel, nur sein Schatten. Der Enkel
kommt nicht mehr zurück.
»Es gibt nichts zu berichten«, sagt der Schatten. Sein
Tonfall ist auf furchterregende Weise grimmig.
»Lass uns später reden.«
Sie kocht Kaffee, extra stark, öffnet die seit langer Zeit
für ihn aufbewahrte Packung Haferkekse – er rührt
nichts an, sondern sitzt reglos da, vornübergekrümmt, mit
gesenktem Blick.
Fritzi verliert sich in Handgriffen, stellt keine Fragen, während
sie ihn umsorgt wie stets, wenn er sie besucht. Das fällt ihr
nicht leicht, aber mit Antworten ist im Moment ohnehin nicht zu
rechnen.
»Es gibt nichts zu berichten«, wiederholt er.
»Hast du keinen Hunger?«
Kopfschütteln.
»Ich könnte uns auch etwas kochen.«
Der Vorschlag, fast flüsternd vorgebracht, reißt ihn
aus der Lethargie. Er strafft sich und holt aus wie zum Schlag in ihr
Gesicht, sie macht sich darauf gefasst und zuckt dann zusammen, als
die flache Hand auf den Tisch saust. Es rummst, der Kaffee in den
Tassen schwappt über, Gläser klirren im Schrank.
»Ich hab keinen Hunger, verdammt.«
Fritzi
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