Wiedersehen in Virgin River
auch die kleine Bücherei, die immer dienstags geöffnet hatte. Dort lieh sie Bilderbücher für Chris aus und Romane für sich selbst.
Es dauerte keine drei Wochen, und sie empfand sich schon nicht mehr als Gast. Natürlich war sei ein Neuling, aber zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich in ihrer Umgebung wohl. Die Tage waren lang, die Arbeit nicht leicht. Wieder einmal taten ihr die Beine weh, nur diesmal war sie dankbar für die Gelegenheit, sich auf diese Weise physisch verausgaben zu können, anstatt sich eingesperrt und von der ständigen Anspannung und Unsicherheit ihres Lebens ausgelaugt zu fühlen. Für ihr Frühstück und Mittagessen sorgte sie selbst. Das Abendessen nahm sie dann zwischen eiligen Bestellungen und schmutzigem Geschirr zusammen mit Rick und John in der Küche ein, und dabei ging es ihr richtig gut.
Nachdem Chris eingeschlafen war, hatte sie ein paar Stunden gelesen. Dabei war sie regelrecht in die Geschichte eingetaucht, wozu sie seit Jahren nicht mehr fähig gewesen war. Sie ließ ihren schlafenden Jungen allein und ging nach unten, um sich ein Glas Milch zu holen. Während sie die Stufen hinunterging, lächelte sie, denn immer brannte nachts ein Licht in der Küche und hieß sie willkommen. Aus der Bar fiel ein Feuerschein, also sah sie dort nach. John saß in dem dunklen Raum neben dem Tisch am Feuer und hatte die Füße auf dem Sims des offenen Kamins liegen. Sie ging hinein.
„Ist es nicht schrecklich spät für dich?“, fragte sie ihn.
Überrascht schreckte er auf, stellte die Füße auf den Boden und setzte sich grade. „Paige! Ich habe gar nicht gehört, wie du heruntergekommen bist.“
„Ich schleiche hier nur herum, weil ich mir ein Glas Milch holen wollte. Was ist los mit dir? Kannst du nicht schlafen?“
„Ja, ich habe ein kleines Problem. Aber in einer Minute bin ich weg.“
„Soll ich dir Gesellschaft leisten?“ Sein Gesichtsausdruck war ganz seltsam. „Oh, ich nehme an, du wirst etwas Zeit für dich allein wollen.“
„Ist schon okay …“, meinte er.
„Nein, das kann ich verstehen. Die ganze Zeit warst du hier allein, und jetzt stolperst du ständig über Leute. Wir sehen uns morgen …“
„Nun setz dich schon, Paige“, forderte er sie finster auf. Unglücklich.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie und zog sich einen Stuhl heran.
Er schüttelte den Kopf. „Es sieht nicht so gut aus. Ich hatte nicht vor, es dir heute Abend zu sagen. Ich wollte bis morgen früh damit warten.“
„Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte sie und runzelte die Stirn. „Gibt es etwas, worauf ich …“
„Mit dir ist alles bestens“, beruhigte er sie. „Es liegt nicht an dir, du bist perfekt. Ich habe nur eben eine schlechte Nachricht erhalten. Wes hat es getan. Das, womit du gerechnet hast. Letztendlich hat er es also doch getan. Er hat dich und Chris als vermisst gemeldet. Vor fast zwei Wochen.“
Einen Moment lang war sie wie gelähmt und völlig sprachlos. Schwach sank sie in ihrem Stuhl zurück. Die ganze Zeit, während sie sich eingelebt hatte und zunehmend wohler fühlte – in ihrer Umgebung, mit ihren neuen Freunden – war ihr Wes öfter in den Sinn gekommen. Dann musste sie einfach einen Blick über die Schulter hinter sich werfen. Sie konnte nicht anders. Manchmal überkam sie dann auch ein Schaudern, und öfter geschah es, dass ihr Herz anfing, wie wild zu pochen. Jedes Mal musste sie all ihre Energie zusammennehmen und sich darauf konzentrieren, gleichmäßig zu atmen, wobei sie sich vorsagte, dass er nirgendwo in der Nähe war und es gleich wieder vorbei sein würde.
Einen kurzen Moment lang schloss sie die Augen. „Ich werde hochgehen und packen“, sagte sie leise. „Ich muss sehen, dass ich fortkomme. Zurück zu meinem Plan …“
„Pack noch nicht sofort, Paige“, unterbrach er sie. „Lass uns darüber reden.“
Sie schüttelte den Kopf. „Da gibt es nichts, worüber man reden könnte, John. Er ist hinter mir her, und ich muss zusehen, dass wir davonkommen. Ich kann kein Risiko eingehen.“
„Aber wenn du wegläufst, gehst du ein viel größeres Risiko ein. Wenn sie dich finden, wirst du verhaftet, und Chris wird dann zu ihm gebracht. Du musst es einfach tun, Paige. Sieh ihm ins Gesicht und zwing ihn in die Knie“, drängte Preacher. „Ich werde dir helfen. Ich werde einen Weg finden, dich da durchzubringen.“
„Es gibt nur einen Weg, um da durchzukommen. Ich muss hier weg. Du hast es doch selbst gesagt, er wird mich
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