Wiegenlied Roman
nachzugeben.
»Flüstern Sie nicht auf dem Flur, lieber Böhme!«, rief Gesa hustend. »Keine Geheimnisse vor mir in diesem Haus.«
Unten am Küchentisch brachte der Arzt einige Zeilen zu Papier und gab der Magd Anweisungen, ohne dabei zu flüstern. Lina steckte den Brief ins Mieder und warf sich das Umschlagtuch über die Schultern, doch sie konnte nicht anders, als noch einmal die Treppen hinaufzurennen, als sie die Herrin rufen hörte.
»Gib mir den Brief«, sagte Gesa leise, »und sei so gut, Lina, tu gar nicht erst so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede.«
Nach Ansicht des Arztes stand es ernst um sie. Während ihrer Bewusstlosigkeit hatte er ihre Atemgeräusche abgehört. Er vermutete eine Perforation des Lungenfells. Er fürchtete, sie könnte innerlich verbluten.
»Unsinn«, sagte Gesa.
Es gelang ihr kaum noch zu sprechen.
»So ein Unsinn, Clemens und die Mädchen derart erschrecken zu wollen.«
Darüber, wie erschrocken sie selber war, verlor sie kein Wort.
Während Elsa die Tasse mit heißer Schokolade leerte, versuchte sie ihre Wut zu zügeln, mit der sie am Morgen aufgewacht war. Wie gut doch der Wind zu ihrer Stimmung passte. Seit Tagen und Nächten pfiff er um die Häuser, auf denen der Schnee lag wie ein mondäner Pelz.
Elsa zog die nackten Füße zurück ins Bett, mit denen sie nach den seidenen Pantoffeln getastet hatte, und ließ sich wieder in die warmen Kissen sinken. Doch sobald sie die
Augen schloss, merkte sie, dass ihre Verstimmung zunahm, und sie sprang auf, um sich mit der Suche nach den gestrickten Wollsocken abzulenken. Malvine hatte sie ihr zusammen mit einer Büchse Pomade aus Mandelöl und Hasenfett, die gegen Frostbeulen helfen sollte, geschickt. Zwar war es trotz des harten Winters zu derart schlimmen Verunstaltungen an Elsas Füßen nicht gekommen, da sie in der Stadt nur kurze Wege hatte und man ihr, sofern ihre Anwesenheit im Neuen Palais, in Potsdam oder auf der Pfaueninsel erwünscht war, eine Kutsche schickte, doch Malvine schrieb, die Pomade sei für die Nachwirkungen zahlreicher durchtanzter Nächte ebenso heilsam.
Elsa fischte Socken und Salbe aus einer halb unter das Bett gestoßenen Hutschachtel, zog mit letzter Kraft an der Klingelschnur neben dem Bettpfosten und ließ sich auf dem Sessel neben der Kommode nieder.
Die eisigen Stürme über Berlin hatten der Ballsaison einen überaus frostigen Abschied bereitet. Es schauderte Elsa, wenn sie daran dachte, wie sie sich auf der Fahrt zu der letzten großen Redoute schon in der Equipage beinahe um den Verstand gefroren hatte. Die gesamte Hofgesellschaft hatte es wenig gefreut, dass der König den Maskenball in Potsdam stattfinden ließ, wo die Kälte im Prunksaal bekanntermaßen kaum fortzutanzen war.
Dabei war der König kein ausgesprochener Freund der Maskenbälle, doch er hatte dem Umstand Folge zu leisten, dass tout Berlin den Karneval liebte. Mit fliegenden Roben eilte man zu den Tanzfesten ins Opernhaus, zu den Bällen in die Stadtvillen des Adels. Man versuchte sich mit dem Erfinden lebender Bilder erst gegenseitig auszustechen, um sich dann bedingungslos gemeinsam zu amüsieren.
Dem König dagegen verschaffte es allenfalls vagen Genuss, langwierig einstudierten Tänzen zuzusehen, daher schätzte er es ganz und gar nicht, wenn es bei den winterlichen Festen ein Gehusche in die entlegenen Schlossgänge gab, wo Zofen mit angewärmten Pelzen warteten, in die sich ihre Herrinnen minutenlang seufzend schmiegten und aus diesem Grund bei der Quadrille fehlten.
Dergleichen hätte sich Elsa allerdings niemals erlauben können, da es ihr als Teil eines lebenden Bildes so lange verboten war, sich aus dem Prunksaal zu entfernen, bis um Punkt zwölf die Masken fielen und Hofstaat sich unter Hofgesellschaft mischte.
Elsa beendete das Salben ihrer zierlichen Füße und streckte sich wie eine schläfrige Katze. Ein Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln, als sie daran dachte, wie Moritz von Vredow in jener Nacht bewiesen hatte, dass er kostümiert ein ausgelassener Tänzer sein konnte, dass Geist und Körper sich Freiheiten erlaubten, die er sich - so wie sie ihn einschätzte - ansonsten niemals herausgenommen hätte.
Der junge Baron liebte Elsa seitdem noch entschlossener als in den Monaten zuvor. Es machte den Umgang mit ihm nicht einfacher, doch andererseits versicherten seine ernsthaften Empfindungen Elsa der unerschütterlichen Dezenz eines Ehrenmannes. Er würde sie heiraten wollen, wenn sie ihm nur die
Weitere Kostenlose Bücher