Wiegenlied Roman
anstehenden Geburten mit Tüchern zu verhängen, war man nicht gefolgt.
Trotzdem waren mit den Jahren immer mehr Frauen gekommen, denen man ein Dach über dem Kopf gab und schlechtes Essen. Frauen, die sich von fremden Herren in schwarzen Anzügen vor und während der Niederkunft in ihrem Innersten touchieren lassen mussten. Mägde und Bettlerinnen, Dienstmädchen und Tagelöhnerinnen, junge und ältere, all jene, denen dies zu ertragen lieber war, als ihr Kind heimlich auf einem zugigen Dachboden, auf dem freien Feld oder im Stall ihrer Brotherren zu gebären und dabei in Versuchung
zu geraten, das zu töten, was ihnen ihr Leben noch schwerer machen würde.
Indessen war man in das ehemalige Fürstenhaus des Deutschen Ordens umgezogen, was als bessere Lokalität angepriesen wurde, es jedoch wahrhaftig kaum war, da man die Räume mit anderen Fakultäten zu teilen hatte. Daran, dass der Direktor mit seiner Familie im Institut wohnte, wie hier in Berlin, war rein gar nicht zu denken.
Der junge Siebold hatte Helene in die weiträumige Wohnung seines Vaters geleitet, die dieser nach dem Tod von Caspars Mutter mit seiner zweiten Frau und den gemeinsamen Kindern bewohnte.
Friederike Auguste, bildhübsch in ihrem grünen Samtkleid, hatte sie empfangen und über einen langen, nach Bienenwachs duftenden Flur in die Bibliothek geführt. Sie war kaum älter als Helene und musterte sie mit unverhohlener, freundlicher Neugier, während sie ein Bombardement von Fragen abfeuerte.
Ob sie zum ersten Mal in Berlin sei? Wie es ihr gefiele? Ob es nicht überwältigend sei, aus einer Stadt wie Marburg kommend? Ob sie sich vorstellen könne, hier zu leben?
Als das Erscheinen ihres Gatten mit seinem Gast Friederike gebot, sich zurückzuziehen, schien sie es aufrichtig zu bedauern.
Helene hatte ihr nicht mehr antworten können, dass sie kaum etwas mehr wünschte, als in Berlin zu leben, nicht nur wegen Elsa. Dabei war Elsa der wundervollste von mehreren Anlässen ihrer Reise. Vor allem jedoch wünschte man ihren Vater an die Königliche Universität zu holen.
Forschung und Lehre an der Königlichen Entbindungsanstalt sollten vom überragenden Erfahrungsschatz des Professors
Clemens Heuser profitieren, der die künstliche Einleitung von Frühgeburten in einem Umfang praktiziert hatte wie niemand sonst. Nur wenige Ärzte hatten sich bislang auf den dünnen Boden dieses Verfahrens gewagt, um Schwangeren mit engen Becken die Niederkunft zu erleichtern und damit ihr Leben und das ihres Kindes zu retten.
»Sie wissen vielleicht, dass mein Sohn sich mit einer öffentlichen Vorlesung über die künstliche Frühgeburt habilitiert hat«, hörte Helene Professor von Siebold in diesem Augenblick zu ihrem Vater sagen. »Selbstredend sind Sie um vieles erfahrener als Arzt und Geburtshelfer. Ganz zu schweigen von Ihrer jahrelangen Forschungstätigkeit, die offenbar wichtiger war, als jemals die Leitung eines Gebärhauses zu übernehmen.«
Clemens lächelte. Dass sein Ruf nach Berlin Elias von Siebold ganz und gar nicht behagte, hatte der Professor und Medizinalrat während der Hausführung nicht gänzlich hinter seinem höflichen Auftreten verbergen können. Clemens wandte sich Caspar von Siebold zu, der ebenso angespannt wirkte wie Helene, deren Ungeduld ihm nur zu gut bekannt war.
»Ich habe Ihren Vortrag gelesen und darf Ihnen meine Anerkennung aussprechen«, sagte Clemens. »Womöglich werden wir Gelegenheit haben, auf diesem Gebiet gemeinsam zu neuen Erkenntnissen zu kommen.«
»Mein Sohn hat einen Eingriff an einer Schwangeren im siebten Mondmonat geschildert, den er unter meiner Leitung ausführte. Ich überließ ihm hierzu meine Aufzeichnungen über die Operation, die ich bereits im Jahre 1811 erstmalig durchführte, damals …«
»… noch in Würzburg. Ich schrieb Ihnen seinerzeit«, fiel Clemens ihm freundlich ins Wort.
»Ach. Antwortete ich?«
»Vermutlich ließ Ihnen Ihre Arbeit keine Zeit. Und ich ahne, wie es erst hier in Berlin sein muss. Sie werden sich glücklich schätzen, Ihren Sohn als ersten Assistenten an der Seite zu haben, der, wie ich höre, seit dem vergangenen Semester selbst Vorlesungen hält.«
»Er ist zweiter Assistent, eine Position, die ihn hinreichend auf die weitere Universitätslaufbahn vorbereitet, ohne dass ich mich dem Vorwurf der Protektion aussetzen müsste. Mein zweiter Sohn wird ihm in diese Stellung nachfolgen. Er arbeitet derzeit an seiner Dissertation über Fehlgeburten. Ich habe zu diesem
Weitere Kostenlose Bücher