Wiegenlied Roman
üblichen Höflichkeiten ausgetauscht und einander versichert hatten, die Veröffentlichungen des anderen gelesen zu haben, ging es inzwischen längst um pathologische Fragen der Geburtsmedizin.
Helenes Finger ertasteten den eigenen Puls, während sie unten auf der Straße eine Gruppe junger Männer in langen Mänteln mit Pelzkragen durch das morgendliche Schneegestöber eilen sah. Sie konzentrierte sich darauf, ihren Atem ruhig zu halten. Sie legte sich die Worte zurecht, so wie sie es seit Tagen und Nächten tat, wann immer sie sich genau diesen Moment vorgestellt hatte, den sie jetzt erlebte.
»Beim Ankauf dieses Hauses schätzte man allerdings neben einer freundlichen Lage vor allem die kurzen Wege«, hörte sie Caspar von Siebold sagen. »Die Universität und das chirurgische Klinikum befinden sich in unmittelbarer Nähe, und somit können die Studenten zügig zu den Geburten herbeigerufen werden.«
Er stand jetzt neben ihr am Fenster, ein gut aussehender Mann mit schmaler Oberlippe und vollem Haar. Obwohl seine Stimme angenehm und nicht zu laut war, wünschte Helene, er würde sich nicht fortwährend um Konversation bemühen.
»Sie kennen die Vorgänge sicher aus Marburg von Ihrem verehrten Herrn Vater. Und natürlich aus eigener Erfahrung von Ihrer Ausbildung in Wien.«
Trotz ihrer Ungeduld und Nervosität bemerkte sie die Melancholie in seinem Blick.
»Ich assistiere meinem Vater bei seinem praktischen Unterricht«, sagte sie. »Die Vorgänge sind mir bekannt, mit all ihrer Unruhe und Hast.«
»Sie begleiten Ihren Vater in den Hörsaal? Wie ungewöhnlich. Ist dies der Einfluss der Wiener Schule? In Wien unterrichtet man Hebammen und Ärzte noch immer gemeinsam, nicht wahr?«
»Ich habe es so erlebt«, antwortete Helene, »aber es ist vier Jahre her, dass ich am Wiener Spital war. Doch nachdem man es dort immer schon so gehalten hat …«
»… hat sich vermutlich nichts daran geändert, meinen Sie?« Während Helene verwirrt schwieg, lächelte er ohne den geringsten Anflug von Überheblichkeit, und sie fragte sich, ob Caspar von Siebold mit seinen insistierenden Bemerkungen etwas bezweckte. Nebenher ärgerte es sie, dass sie sich zu dem Kleid aus englischer Wolle entschlossen hatte, da es ihr eigentlich immer zu warm wurde, sobald sie einen geheizten Raum betrat. Doch weil es nonnenhaft schlicht war, hatte sie es dem Anlass entsprechend für angemessen gehalten.
Elsa würde dergleichen nicht unterlaufen, dachte Helene. Elsa würde niemals feststellen müssen, dass sie unpassend gekleidet war.
In Helenes Achselhöhlen begannen sich einige Schweißtropfen auf den Weg zu machen, obwohl sie bei der Morgentoilette reichlich Veilchenwurzelpuder aufgelegt hatte. In diesem Punkt war sie Elsas Rat gefolgt, die ihr zu verstehen
gegeben hatte, dass ein weiblicher Mensch hart arbeiten, aber keinesfalls danach riechen dürfe.
»Tatsächlich weiß ich es auch nicht anders, als dass man in Wien dabei geblieben ist«, sagte Siebold. »Aber wollen Sie mir verraten, ob Sie die gemeinsamen Unterweisungen als Vor- oder Nachteil empfanden, Fräulein Heuser?«
»Unbedingt als Vorteil. Ich wusste es zu schätzen, dass man keinen Unterschied machte und nicht meinte, sich einfacher ausdrücken zu müssen, in der Überzeugung, Hebammen hätten weniger Verstand als die Studenten.«
»Ich verstehe. Und ich fürchte, ich habe Sie verärgert.«
»Ganz und gar nicht.« Sie senkte die Stimme. »Sollte ich gereizt klingen, liegt es vermutlich daran, dass ich sehr durstig bin. Wenn ich um eine Tasse Tee bitten dürfte.«
Während Siebold sich zu einem zierlichen Tischchen begab, auf dem man den Samowar, geblümtes Teegeschirr und eine Schale Gebäck angerichtet hatte, suchte Helene den Blick ihres Vaters. In seinem Profil, dessen kantiger Schnitt von dichten grauen Locken gemildert wurde, ließ sich die Stirnfalte erkennen, die seine Konzentration auf das Gespräch mit dem Gastgeber anzeigte.
Tatsächlich verursachte ihr Siebolds Bibliothek, die sich mit staubiger Wucht und Fülle als Teil eines männlichen Kosmos präsentierte, ein trockenes Gefühl auf der Zunge, obwohl ihr eine solche Umgebung keineswegs fremd war. Wann wohl ihr Vater endlich den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt, um sich bei dem Professor für sie zu verwenden?
Vor inzwischen mehr als zwei Stunden hatten Elias und Caspar von Siebold sie am Hauptportal empfangen. Man konnte sie für Brüder halten, beide gleichermaßen schlank und hochgewachsen, mit
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