Wiegenlied Roman
darum.«
Sie schenkte Kaffee ein und reichte ihm eine Tasse. Sie wirkte unendlich erschöpft.
»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Lieber nicht.«
Er hätte zu gern gewusst, was sich hinter dieser Antwort verbarg. Moritz zögerte einen Moment. Doch warum sollte sie nicht von ihm hören, was sie ohnehin erfahren würde?
»Elsa hielt sich in ihrer Garderobe auf, als der Mord geschah«, sagte er. »Niemand sonst war zu dieser Zeit dort, nicht einmal die Garderobieren, so stand es in der Zeitung. Dieser Umstand beunruhigt mich zugegebenermaßen am meisten. Und ich nehme an, dass es auch die Polizei veranlasst haben wird, Elsa einige Fragen zu stellen.«
Sie wurde sehr blass.
»Schon gut«, sagte sie, als sie seine Besorgnis bemerkte. »Ich setze mich.«
»Dieser Mann, der getötet wurde - weiß man etwas über ihn?«, fragte sie.
Sie bemerkte sein erneutes Zögern.
»Sie wissen doch vermutlich von Elsa, welchem Beruf ich nachgehe und wo. Sie müssen mich also nicht schonen. Ich kann einiges aushalten.«
Er glaubte ihr aufs Wort.
»So wie zu lesen war«, sagte er, »handelte es sich um einen Kavalier aus Wien, der seit einigen Monaten die Wirtin eines Hauses an der Königsmauer unter seinen besonderen Schutz genommen hatte.«
»Sie wissen die Dinge wirklich dezent auszudrücken«, sagte sie leise. Ihre Hand zitterte, als sie die Tasse abstellte. Sie hatte keinen Schluck getrunken.
Plötzlich fühlte Moritz sich, als wäre er ihr zu nahe gekommen. Vielleicht war es anmaßend, was er hier tat.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich überlege, ob es missverständlich auf Elsa wirken könnte, wenn wir sie hier gemeinsam erwarten.«
Überrascht sah Helene auf.
»Ich wüsste wirklich nicht, warum.«
»Sie schätzt ihre persönliche Freiheit.«
»Ich wollte Ihnen immer schon danken dafür«, sagte sie, »dass Elsa … ihre Krankheit auf Gut Vredow auskurieren konnte.«
»Ich wünschte, sie hätte sich mehr Zeit dafür gelassen.«
Sie betrachtete ihn nachdenklich.
»Ich werde mich verabschieden und Sie allein mit Ihrer Schwester über alles reden lassen«, sagte er. »Es wäre schön, Helene, wenn Sie einmal mit Elsa nach Vredow kämen. Vielleicht gemeinsam mit Ihrem Vater. Ich hatte die Freude, ihn kennenzulernen.«
Betroffen sah er, wie sie um Fassung rang.
»Es geht ihm nicht gut«, sagte sie.
»Wünschen Sie, dass ich bleibe?«
»Gehen Sie besser, Moritz von Vredow, sonst wird alles noch komplizierter.«
TAG VIER
Sidonie fühlte sich ganz verschwollen, obwohl sie keine Träne vergossen hatte. Sie saß mit Lula am Herdfeuer und hatte den Jungen an der Brust. Nelly rang ihre dicken Ärmchen in Lulas Schoß und übte ihr erstes Lächeln.
Es roch nach nasser Wolle, was von Lulas Umhang kam, die im Eisregen von der Königsmauer zum Mühlenberg gelaufen war, um Sidonie endlich zu finden.
Dass Friedo tot war - und alles, was sie darüber zu hören bekam -, machte ihr eine Heidenangst, mehr als so manches in den dunkelsten Momenten ihres Lebens. Es beunruhigte sie, dass Lula zu ihr gefunden hatte, denn wenn es ihr gelungen war, konnte es auch einem anderen gelingen, diesem
Jemand nämlich, der Friedo auf dem Gewissen hatte und vielleicht auch ihr nach dem Leben trachtete.
Oder womöglich dem Kind, dem ihre Milch aus den Mundwinkeln rann, während ihm die blauen Augen zufielen.
»Woher wusstest du, wo ich wohne?«, fragte sie nun schon zum zweiten Mal, denn vorhin, als sie, vom ungestümen Klopfen aufgeschreckt, vorsichtig und dann erleichtert, ja auch erfreut die Tür geöffnet hatte, war ihre Frage in Lulas nassen Umarmungen, Tränen und Entzückensschreien untergegangen.
»Celestine, das Miststück, hat es mir geflüstert, bevor sie abgezittert ist mit allem, was Perdita unter der Matratze hatte. Das Haus ist ein einziges Drunter und Drüber, weil nun die olle Roon in einem gottsjämmerlichen Zustand ist. Sie heult und schreit und rauft sich die dünnen Haare. Wenn es so weitergeht, wird man sie bald mit der blauen Droschke abholen müssen, mit Zwangskamisol und allem anderen Drum und Dran.«
Die blaue Droschke war der Wagen zu Beförderung der Irren. Sidonie kannte sie nur als geflügeltes Wort, ohne sie je gesehen zu haben, doch immer wenn sie davon hörte, stellte sie sich ein gespenstisches Gefährt mit weißen Pferden vor.
Lula nahm Nelly hoch und küsste sie auf die Backen.
»Sie überlässt die Mädchen sich selbst, und das spricht sich rum, wie
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