Wiegenlied Roman
seine Töchter, dass sie in der Liebe die gleiche Erfüllung finden sollten wie in ihren
Berufen, ließ er sie in einem Meer von Tränen für immer zurück.
Als Malvine ihr Zimmer im Hotel de Rome bezog, ahnte sie nicht, dass sie ihren Freund Clemens nicht lebend wiedersehen würde. (Sie würde ihn ganz und gar nicht wiedersehen, denn die Aufbahrung eines obduzierten Toten war weder üblich noch den Hinterbliebenen zuzumuten.) Malvine wusste schon allein von seiner Erkrankung nicht, denn die Informationen, die sie nach Berlin getrieben hatten, stammten zum einen aus der verzögert in Marburg eintreffenden Vossischen Zeitung , die sie abonnierte, seit Elsa in Berlin war. Zum anderen war ein Brief Hersilies am Tag ihrer hastigen Abreise eingetroffen, und es ärgerte Malvine auf sehr kleinmütige Weise, dass diese überschwängliche Person nun glauben würde, dass sie sich ihres aufgebrachten Schreibens wegen umgehend auf den Weg gemacht hatte. Die aufrüttelnde vielstündige Fahrt in der beklagenswert voll besetzten Postkutsche hatte Malvine dazu genutzt, ihre Eifersucht niederzukämpfen. Es war ihr gelungen, indem sie sich Hersilies schlichtes Gemüt vor Augen führte. Im Grunde musste sie ihr alles verzeihen, weil ihre Liebe zu Elsa so ehrlich war wie die eigene.
Da nun Malvine über das Sterben Clemens Heusers ahnungslos war - während Hersilie sich über die schockierende Nachricht bereits die Augen ausweinte -, konzentrierte sich ihre Besorgnis allein auf Elsa, nachdem sie das Zimmermädchen fortgeschickt hatte. Es machte sie nervös, dem dummen Ding beim Auspacken ihres Reisekoffers zuzusehen.
Während sie ihre Puderdosen, Tiegel und Flakons auf dem Toilettentisch ordnete, kreisten Malvines Gedanken um den obszönen Mord an dem kriminellen Menschen aus Wien, der sich in erschreckender Nähe zu ihrer Patentochter befunden hatte. Es taten sich ihr so unendlich viele quälende Fragen auf, die sie seit der Lektüre der Vossischen nicht mehr zur Ruhe kommen ließen.
Zum ersten Mal in ihrem wohlgeordneten Leben hatte Malvine von Homberg das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden.
Es war fraglich, ob Elsa ihr nach dem Zerwürfnis wieder vertrauen würde, wenn es doch um so vieles einfacher war, den Weg des geringen Widerstandes zu gehen, was hieß, einen gutgläubigen Charakter wie Hersilie Stopfkuchen mit selektierten Wahrheiten zufriedenzustellen und sich im Übrigen vor allem Weiteren davonzustehlen. Sie wusste nur zu gut, dass Elsa dazu neigte. Und wenn Malvine am Tag ihrer Ankunft in Berlin etwas ahnte, dann war es, dass sie jedweder Wahrhaftigkeitsflucht Elsas entgegensteuern musste.
Berlin, den sechsten December 1828
An die Polizei-Intendantur
Verehrte Herren!
Keinen Tag länger kann ich ertragen, ohne mein Schweigen zu brechen und die Polizeibehörden fortwährend an den falschen Orten nach der falschen Person suchen zu sehen.
Worüber ich Ihnen Mitteilung zu machen habe, betrifft die Verbrechen an den Prostituierten Berlins.
Wer ihnen antat, woran die meisten von ihnen zugrunde gingen, ist mitten unter den Ärzten zu finden, die um das Leben jener gefallenen Weiber kämpften, und war zugegen, wenn man ihre geschundenen Leiber sezierte.
Es war diesem Menschen ein Leichtes, sich jenes Wissen anzueignen, das bei Weitem nicht reichte, um die Ergebnisse herbeizuführen, nach denen die Huren verlangten, deren Vertrauen so billig zu erschleichen war.
Wenn Sie fragen, woher ich Kenntnis erhalten habe darüber, so kann ich es Ihnen ebenso wenig aufdecken wie meine Identität. Die Gründe sind nicht von Belang.
Wenn ich Sie nun an meinem Wissen teilhaben lasse, wer explizit schamlos an Menschenmaterial zur Beförderung seiner eigenen Wissenschaft experimentierte, darf ich Ihnen raten, als Erstes und dringend die Beweise sicherzustellen, die Ihnen die Richtigkeit meiner Hinweise versichern.
Nachdem der Mann kundgetan hatte, wo genau sich die Beweisstücke finden lassen würden - vor allem auch, wann -, und er schließlich den Namen der Person nannte, die er der abstoßenden Verbrechen überführt sehen wollte, unterzeichnete er als ein ergebener Sohn der Stadt .
Blunck bekam das Schreiben erst später zu sehen, doch was es in Gang setzte, hätte er nach Lage der Dinge ohnehin nicht ändern können.
TAG SIEBEN
Wie die Leichen der Kindbettfieberkranken war auch der Leichnam Professor Heusers schnell in Fäulnis übergegangen. Die gewöhnlichen Totenflecken stellten sich nach seinem Ableben
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